: Diese Kirche kommt ins Dorf
Pastor Koop aus dem holsteinischen Brügge packt Altar und Orgel auf einen Trecker und lädt zum Gottesdienst in die Scheune: Da kommen auch die, die sonst der Kirche fernbleiben ■ Von Jens Rübsam
Leise rechnet Küster Britschin durch. 75 Klappstühle, alle besetzt, die langen Holzbänke, alle besetzt, dazu die Kinder auf dem Heuboden; macht „gut hundert Leute“. Hundert Leute an einem ganz normalen Sonntag im Gottesdienst – erfreulich, ja mehr als erfreulich. Sonst kommen nicht mehr als dreißig an einem ganz normalen Sonntag, und aus Techelsdorf kommt fast nie jemand. Aus „Bequemlichkeit“, sagen die Männer aus Techelsdorf, weil „gekocht werden muß“, sagen die Frauen aus Techelsdorf, weil es „zu anstrengend ist“, sagen die Alten aus Techelsdorf. Fünf Kilometer sind es von hier nach Brügge. In Brügge steht die St.-Johannis-Kirche, die einzige Kirche im Kirchspiel Brügge. Zum Kirchspiel Brügge gehören sieben Dörfer, auch Techelsdorf. Da ist an diesem Sonntag Gottesdienst, bei Spethmanns in der Scheune.
„Gut hundert Leute“, wiederholt Küster Britschin leise, es klingt geradeso, als sei der Raps hier auf den Feldern im holsteinischen Landkreis Rendsburg- Eckernförde erstmals in Blau erblüht. Dabei ist nichts weiter passiert, als daß sich der Pastor an Vers 15, Kapitel 16, Markus-Evangelium, gehalten hat: „Geht hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur“, und eben nicht an Vers 28, Kapitel 11, Matthäus- Evangelium: „Kommt her zu mir, all die ihr mühsam und beladen seid.“ Pastor Koop ist mit seiner Kirche von Brügge nach Techelsdorf gereist, das erste Mal. „Mobile Kirche“ hat er die Aktion genannt. Und jetzt, da sich die Leute auf den Klappstühlen in Spethmanns Scheune zurechtgerückt und die Kinder auf dem Heuboden zu spielen aufgehört haben, da auch Küster Britschin durch ist mit dem Rechnen, jetzt fragt Pastor Henry Koop seine Gemeinde: „Ist es eigentlich schon zehn?“ Er lacht dabei ein wenig verlegen: „Wir haben hier ja keine Glocke.“
Es ist schon zehn, genauer gesagt kurz nach zehn. „Ein Aufbruchsgefühl macht sich breit“, beginnt Pastor Koop den Gottesdienst. Er meint den Frühling und die Sonne und den blauen Himmel und die gelben Rapsfelder draußen vor der Scheune. Es könnte freilich auch eine Zustandsbeschreibung seiner evangelischen Kirche sein.
Die nämlich ist zum Aufbruch verdammt, seitdem der Rückgang der Mitgliederzahlen und der Finanzen begonnen hat zu schmerzen. In den Büchern des Kirchenkreises Neumünster, der im Süden bis an Hamburg und im Norden bis an Kiel reicht und zu dem auch das Kirchspiel Brügge gehört, liest sich das so: 126.341 Gemeindemitglieder im Jahre 1996, ein Jahr später nur noch 125.201, rund 1.000 weniger. 19,5 Millionen Steuereinnahmen im Jahre 1996, ein Jahr später nur noch 17,5 Millionen. Zum Aufbruch verdammt ist die evangelische Kirche gerade in Schleswig-Holstein. Erst vor fünf Monaten hat sich die Bevölkerung gegen die Wiedereinführung des Buß- und Bettages ausgesprochen. Dabei hatte die Nordelbische Kirche die Volksabstimmung zu einem „Sperrfeuer gegen die Ökonomisierung der Gesellschaft“ ausgerufen und 600.000 Mark in den evangelischen Kruzifix-Aufstand investiert. Von einem „Popularitätstest für die Kirche“ war die Rede. Mit der Popularität der Kirche, so sprachen Kritiker nach der Niederlage, könne es nicht mehr weit her sein.
So ganz stimmt das nicht. Immerhin war es in Schleswig-Holstein, anders als beispielsweise in Hessen, gelungen, die für die Einleitung des Volksentscheides notwendigen 120.000 Stimmen zusammenzubekommen. Und als 1996 in Neumünster Probst und Pastoren gegen „die Kommerzialisierung des Sonntages“ auf die Straße gingen, hatte das zur Folge, daß die Geschäftsleute im Jahr darauf freiwillig auf verkaufsoffene Sonntage verzichteten. Immerhin hat hier der Brügger Pastor Henry Koop in seinem Kirchspiel seit Jahren eine konstante Mitgliederzahl, 2.400. Pro Jahr zehn Eintritte und zehn Austritte. Eigentlich hätte Pastor Koop solche Aktionen wie die „mobile Kirche“ gar nicht nötig.
Aber Koop – von den Leuten als „weltoffen“, als „ein wunderbarer Mensch“, als „einer mit vielen Ideen“ umschwärmt – will „die Kirche wieder im Dorf zeigen“. Das hat nun hier auf dem holsteinischen Lande, wo samstags mittags ein Reisebusfahrer der einzige ist, den man auf der Straße antrifft und sich samstags abends die Älteren auf der „Scheunenfete“ vergnügen, durchaus komische Züge. Dann nämlich, wenn Bauer und Kirchenvorstandsmitglied Dieter Sander mit seinem Trecker vor des Pastors Garage fährt, die St.-Johannis-Kirche in Holzminiatur, 2 Meter lang und 1,80 Meter hoch, der Altartisch aus Eiche, das Predigt-Pult, die 75 Klappstühle sowie im Kleinbus von Küster Britschin eine elektronische Orgel, zwei wuchtige Kerzenständer und ein zartes Jesu-Kreuz verstaut werden. Da stellen sich noch ungeahnte Fragen: „Wo soll denn die Kirche hin? Rechts auf den Trecker oder links?“ Pastor Koop und Küster Britschin entscheiden sich für rechts. Karin Jauer-Butscher, Gemeindeschreiberin seit 22 Jahren, fragt sich, was das wohl heißen mag, was der Herr Pastor auf dem kleinen Zettel noch als nicht zu vergessen für die Reise notiert hat. Es heißt Kollektenbeutel.
Dann kann es losgehen. Durchs Brügger Oberdorf und durch Reesdorf nach Techelsdorf. Bauer Sander vorn auf dem Traktor, auf dem Hänger Pastor Koop, der sich an der Kirchturmspitze festhält, Karin Jauer-Butscher, die auf das Geschirr aufpaßt. Fünfzig Tassen werden mitgenommen – für den Kaffee nach dem Gottesdienst. Einmal verfährt sich Bauer Sander auf dem Weg zu Spethmanns Scheune, und Frau Jauer- Butscher spekuliert, wie er das mit dem Wenden wohl anstellen wird. Es heißt, Bauer Sander könne nicht rückwärts fahren mit seinem Trecker.
Vielleicht sollte man wissen, daß Spethmanns Scheune einst zum Hof von Asta Lüder gehörte, der Mutter von Jutta Spethmann. Daß Asta Lüder dem Herrn Pastor gleich zugesagt hat, als der einen Ort für seine „mobile Kirche“ suchte. Daß Asta Lüder zum kirchlichen Seniorenkreis gehört und eine der wenigen aus Techelsdorf ist, die wenigstens zu Weihnachten, Ostern und dem Erntedankfest nach Brügge in die Kirche kommen. Daß in Spethmanns Scheune einst 21 Kühe und noch mal soviel Jungvieh standen. Daß sich seitdem an der Scheune eigentlich nichts verändert hat, die Scheune jetzt eben nur noch Wirtschaftsscheune ist, Heu und Stroh hier lagern und einige recht alte Gerätschaften; eine Hungerharke, wie Bauer Sander aufklärt, und auch eine Kohlenwaage. Daß Spethmanns Scheune keineswegs rein ist wie ein Gotteshaus. Daß Pastor Koop zum Besen griff, die Spinnweben an der Decke wegfegte und auch der Küster sich einen Besen nahm und auch die Frau Jauer-Butscher. Daß Frau Jauer- Butscher froh war, heute noch nicht die Haare gewaschen zu haben. All das passiert am Samstag nachmittag.
„Ich bin keine Kirchgängerin. Aber wenn die Kirche schon mal da ist, gehe ich hin“, sagt Jutta Spethmann vor ihrer Scheune – oder Kirche. Schön, daß die Kirche mal zu uns kommt, sagten die Techelsdorfer schon Tage im voraus. Neues passiert in dem 160-Einwohner-Dorf in der Regel nicht.
In der Kirche in der Regel auch nicht. Bis vor zwei Jahren die Unternehmensberatung McKinsey eine Studie zum Thema „Unternehmen Kirche“ veröffentlichte. Die Mitarbeiter, hieß es, sollen befähigt werden, eigene Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Beispielsweise auch: Weg von der Kommstruktur, hin zur Gehstruktur. „Die Kirche muß sich mehr einfallen lassen“, sagt auch der Probst des Kirchenkreises Neumünster, Johannes Jürgensen, und spricht gern schon mal davon, daß das Pastorenamt, in zehn, fünfzehn Jahren, ein Ehrenamt sein könne, daß sich Gemeinden zusammentun müßten, um einen Pastor selbst zu finanzieren, ähnlich einem Sportverein. Bei allem Aktionismus will Probst Jürgensen aber eines festgehalten wissen: „Die Kirche muß sich auf ihre Ziele und Werte besinnen.“ McKinsey hat die Herausforderungen in drei Ja- Formeln verpackt: ja zum Glauben, ja zur Entwicklung der Kirche als Institution, ja zur Nutzung professioneller Methoden. Andernfalls werde die Kirche im Jahre 2003 zwanzig oder dreißig Prozent weniger Mitglieder haben.
So dramatisch sieht Pastor Henry Koop die Lage bei einer selbstgedrehten Zigarette und bei einem italienischen Kaffee auf seiner Veranda nicht. Seitdem er in Brügge ist, hat er etwas bewegt, was, zugegeben, auch nicht so schwer war. Der Vorgänger war ein „sehr Konservativer“ (Probst Jürgensen) und so lange in Brügge, daß schon keiner mehr die Anzahl der Jahre genau weiß. Koop kam 1992. Er hat eine Theatergruppe gegründet, er spielt auch selbst mit, mal den kleptomanischen Butler, mal den jugendlichen Liebhaber. Das Erlös der Benefizvorführungen kommt der Kirche zugute. Er lädt zu Partys in seinen Garten, auch mal zum Kugelwerfen, er hat einen kleinen Sportplatz hinterm Haus. Er begrüßt die Senioren ab 65 regelmäßig zum Geburtstagskaffee. Er läßt das älteste Haus in der Gemeinde sanieren – für die Jugend und für die Frauen. Mittlerweile spenden auch die örtlichen Bestattungsunternehmer, der evangelische einen Baum, der katholische eine Bank.
„Aber“, sagt Henry Koop dann doch, als sei ihm eben bewußt geworden, daß Pastoren keine Politiker sind und auch die Wahrheit sagen dürfen, „heile Welt ist hier nicht.“ Damit wird er das, was heute die meisten Pastoren sein müssen: Buchhalter. Als er kam vor fünf Jahren, betrug die Kirchensteuerzuweisung für das Kirchspiel Brügge 250.000 Mark, jetzt sind es noch 190.000 Mark. Vor fünf Jahren mußten die Eltern für die Betreuung ihrer Kinder in der Kinderstube 35 Mark zahlen, jetzt sind es 55 Mark. Mittlerweile mußte sogar die Rücklage angezapft werden. Und ob die Gemeindeschwesternstation, seit 75 Jahren eine Institution am Ort und heute, weil keine Zuschüsse mehr fließen, Brügger Luxus, von der Kirche gehalten werden kann, wird gerade heftig diskutiert. Die Kirche sollte den Pachtzins für die Jagdpächter erhöhen, gibt Brügges Bürgermeister Hinz einen väterlichen Ratschlag.
„Vielleicht bin ich kein Manager“, sagt Pastor Koop. Man glaubt es ihm gerne. Er diskutiert viel lieber Fragen, von denen er weiß, daß er keine Antworten darauf hat. Wie zum Beispiel: „Wie sieht er denn aus, der fromme Christ?“ Der, der immer sonntags zum Gottesdienst kommt? Der, der nur am Heiligen Abend kommt? „Es gibt viele Zugänge zum Christentum“, sagt Koop diplomatisch. „Es geht um Grundhaltungen“, sagt er noch.
Bei vielen, die an diesem Sonntagmorgen um zehn in Spethmanns Scheune in Techelsdorf sitzen, hat die Grundhaltung ihre Grenze am Ortsschild, Ausnahmen sind Asta Lüder und ihre Freundinnen vom Seniorenkreis, alles Damen, die Techelsdorf noch aus der Zeit kennen, als man hier in Stellung war. Sie fahren regelmäßig nach Brügge. Alle zusammen singen sie nun schöne Lieder, beten fromm und trinken nach dem Gottesdienst Kaffee in Spethmanns Garten. Wir sind froh, daß die Kirche und der Herr Pastor mal zu uns gekommen sind, sagen sie. Er könnte öfter kommen, sagen sie. Schön sei es, Kirche im Dorf. Wirklich schön.
Fünf Stunden später. Ein Gospel-Konzert in der St.-Johannis- Kirche in Brügge. Es kommen keine dreißig Besucher.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen