Sieche Revolutionäre

Vor dem Parteitag der nicaraguanischen Sandinisten streiten sich drei Tendenzen. Daniel Ortega aber bleibt  ■ Aus Managua Toni Keppeler

„Die Frente hat keine Kraft mehr. Selbst Daniel ist schwer angeschlagen.“ Alfredo Ortiz ist frustriert. Für den Fünfzigjährigen gibt es derzeit nichts zu tun. Der Mann aus Masaya war von Anfang an dabei. Schon beim ersten Volksaufstand, damals, 1978 im Indigena-Viertel Monimbó, da hat er Splitterbomben auf die Guardias geworfen. „Ich gehöre zum sandinistischen Stoßtrupp“, sagt er mit nostalgischem Stolz. Aber regelmäßige Treffen gibt es seit Monaten nicht mehr. Der Ärztestreik der vergangenen Tage hat mit der FSLN nichts zu tun. Im günstigsten Fall können sich die Sandinisten an die Streikbewegung anhängen. Nichts bewegt sich an der sandinistischen Basis.

Um so mehr Aufregung herrscht bei den Führungskadern der Sandinistischen Befreiungsfront. Am Freitag und Samstag dieser Woche trifft sich das höchste Gremium der Partei, die Sandinistische Versammlung, zu ihrem vierten Kongreß. Dort soll die Politik für die nächsten Jahre, am besten bis zur Präsidentschaftswahl im Jahr 2002 definiert werden. Und es soll ein neues Führungsgremium gewählt werden.

Sechs der zwölf Mitglieder der Nationalen Leitung, darunter der „historische Kommandant“ Bayardo Arce, haben bereits angekündigt, sie würden nicht mehr zur Verfügung stehen. Und die Wiederwahl des einzigen überlebenden FSLN-Gründers, Tomás Borge, ist noch lange keine ausgemachte Sache. Als sicher gilt nur, daß Daniel Ortega Generalsekretär bleiben wird.

Dabei ist Ortega schwer angeschlagen. Die Vorwürfe seiner Stieftochter Zoilamérica Narvaez, er habe sie seit ihrem elften Lebensjahr sexuell mißbraucht, haben ihm mehr geschadet, als es zunächst schien. Ein Nachfolger jedoch ist weit und breit nicht in Sicht. Kein anderer sandinistischer Politiker verfügt über eine ähnliche Zugkraft.

Hinter Ortega aber finden Grabenkämpfe statt. Drei Fraktionen streiten im Vorfeld des Kongresses um die künftige Linie der FSLN. Eine Gruppe, die sich „Für die Modernisierung und Demokratisierung der FSLN“ nennt, entfernt sich dabei am weitesten vom traditionellen Partei-Konzept. Für die sandinistischen Unternehmer, Freiberufler und jüngeren Kader dieses Zirkels gehört der Klassenkampf der Vergangenheit an. Sie fordern eine Reform von Ideologie und Organisationsstruktur, hin zu einer sozialdemokratischen Volkspartei.

Die sogenannte „Sandinistische Linke“ dagegen ist eher traditionalistisch orientiert. Es gehe darum, sagt ihr Vertreter Bayardo Arce, „die verlorenen Werte des Sandinismus und das Vertrauen des nicaraguanischen Volkes wiederzugewinnen“. Der evangelische Prediger Miguel Ángel Casco hat das ein „historisches Projekt für die Armen“ genannt. Casco will in die Nationale Leitung gewählt werden.

Um den Soziologen Orlando Nuñez und den Journalisten William Grisby hat sich schließlich die Plattform „Für die Einigkeit und den revolutionären Wandel der FSLN“ gesammelt. Sie verlangt, daß „die sozialistische Orientierung der Partei mit den täglichen Kämpfen des Volkes verbunden wird“.

Gleichzeitig kristisiert diese Gruppe den Zustand der FSLN am härtesten. Nuñez: „Wir hören nicht aufeinander, wir kämpfen gegeneinander, wir schließen uns gegenseitig aus. Wir machen uns lächerlich und werden zu einem einsamen Zirkel von Nostalgikern, der nur noch an die Vergangenheit denkt.“

Ortega äußert sich nicht zum Streit der Strömungen. Der Kongreß werde „keine grundlegenden Änderungen“ bringen, sagt er nur. Und: „Die FSLN soll weiterhin eine revolutionäre Partei bleiben.“

Der Abstieg der Sandinisten dürfte so nicht zu bremsen sein. Die Partei, sagt die FSLN-Dissidentin Sofia Montenegro, habe sich in Richtung eines „hermetisch in sich abgeschlossenen religiös-militärischen Ordens“ entwickelt. Für Montenegro, die einst zur Führungsriege der Partei- Zeitung Barricada gehörte und 1994 von Tomás Borge geschaßt wurde, sind FSLN und Sandinismus zwei grundverschiedene Dinge. Die FSLN sei nur noch „der persönliche Stoßtrupp von Ortega“. Den Sandinismus dagegen findet sie im derzeitigen Ärzte- Streik, in den Studentenkämpfen des vergangenen Jahres für eine bessere finanzielle Ausstattung der Universitäten oder in Nachbarschaftszusammenschlüssen in den Armenvierteln. „Wenn eine Alternative zum derzeitigen Regierungsmodell entsteht“, sagt sie, „dann kommt sie nicht aus der FSLN, sondern aus diesem Sandinismus.“