: Indien und die Gefahren der Minibombe
Pakistan warnt die Regierung in Dehli vor einem Angriff auf Kaschmir. Falls Indien tatsächlich über die Technologie für atomare Kleinsprengsätze verfügt, könnte die Hemmschwelle für deren Einsatz sinken ■ Aus Dehli Bernard Imhasly
Fast 100 indische Wissenschaftler haben gestern das teure Atomprogramm ihres Landes in einem offenen Brief an die Regierung kritisiert. Die Forscher, die zum Teil auch im Ausland arbeiten, schrieben in der Zeitung Hindu, sie könnten nicht nachvollziehen, welche Drohungen gegen die Sicherheit Indiens zu den fünf Atomwaffentests der vergangenen Woche geführt hätten, zumal die Bereitstellung von Finanzmitteln für Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und Wirtschaft wichtiger sei.
Ministerpräsident Atal Bihari Vajpayee von der radikalen Hindu-Partei BJP kündigte einen Besuch im Testgebiet bei Pokaran an. Er wollte den beteiligten Atomforschern gratulieren und mit Einwohnern sprechen. Der pakistanische Ministerpräsident Nawaz Sharif warnte Indien unterdessen vor einem Angriff auf den pakistanischen Teil des von beiden Ländern beanspruchten Kaschmir. „Indien droht uns damit jeden Tag“, sagte Sharif anläßlich einer Rede zum 50. Jahrestag des staatlichen Rundfunks. „Aber wir haben die Fähigkeit, jeder Drohung zu begegnen.“ Das mit Indien verfeindete Nachbarland Pakistan will in nächster Zeit selbst einen atomaren Sprengsatz zu Testzwecken zünden.
Inzwischen ist eine Debatte darüber entstanden, welche Bomben Indien eigentlich gezündet hat. Handelte es sich beim ersten Test am 11. Mai um eine thermonukleare Wasserstoffbombe oder war es eine „konventionelle“ Bombe, hervorgerufen durch eine Kernspaltung, und nicht, wie behauptet, eine Fusion von zuvor gespaltenen Atomkernen? Entsprechende US-amerikanische Vermutungen waren aufgekommen, weil die weltweit gemessenen seismischen Erschütterungen eine solche Interpretation nahelegten; zudem ist das amerikanische Establishment skeptisch, daß es Indien ohne einen einzigen Atomtest seit 24 Jahren gelungen ist, die anspruchsvolle Technologie bereits zu beherrschen und damit zumindest die technische Reife der Atomstaaten zu erreichen.
Der technische Anspruch, eine thermonukleare Bombe zur Explosion gebracht zu haben, wurde nun von den beiden für die Tests verantwortlichen Wissenschaftern in aller Form wiederholt. Dr. R. Chidambaram, der Präsident der zivilen Atomenergiekommission, und Dr. Abdul Kalam, der Direktor der ausführenden „Defence Research and Development Organisation“ (DRDO) beteuerten, Indien habe eine Fusionsbombe von einer Sprengkraft von 43 Kilotonnen – und damit doppelt so stark wie die Atombombe von Hiroshima – zur Explosion gebracht, neben einer Fissionsbombe von 12 Kilotonnen und drei „subkritischen“ Sprengsätzen von 0.5, 0.3 und 0.2 KT. Chidambaram erklärte, die drei Sprengsätze – in einer Distanz von einem Kilometer voneinander – seien mit einem einzigen Knopfdruck zur Explosion gebracht worden.
Unabhängige Experten sagen, falls dies zutreffe, verfüge Indien damit über ein ernsthaftes atomares Abschreckungspotential. Von noch größerer strategischer und technischer Bedeutung seien allerdings die „subkritischen“ Sprengsätze. Sie weisen darauf hin, daß die indischen Wissenschaftler die ungleich schwierigere Technologie der Kontrolle der nuklearen Kernspaltungsreaktion mit kleinen Sprengsätzen beherrschen. Dies erlaube es dem Land, in Zukunft Tests durchzuführen, selbst wenn es den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet. Man nimmt an, daß von den fünf Atomstaaten lediglich die USA und Frankreich noch kleinere Sprengsätze zur Explosion bringen können. Die Limitierung des Atomtestverbots auf eine untere Grenze von fünf Kilotonnen bietet den Atommächten ein Schlupfloch und war einer der Gründe, warum Indien den Vertrag als diskriminierend ablehnte.
Die Möglichkeit der Entwicklung von sogenannten „Minibomben“ hat laut dem Direktor des Instituts für Strategische Studien in Delhi, Jasjit Singh, Folgen für die militärische Strategie und Taktik. Wenn solche „Battlefield Bombs“ kontrolliert eingesetzt werden können, ohne einen atomaren Holocaust auszulösen, sinke auch die Reizschwelle, um sie tatsächlich einzusetzen, sagt Singh.
Dies kann bedeuten, daß ein Atomkrieg zwischen den drei benachbarten Atommächten Indien, Pakistan und China möglich wird – er kann kontrolliert beginnen und sich zu einer Katastrophe steigern. US-Präsident Bill Clinton zeichnete am Sonntag in einem Interview ein solches Szenario, als er meinte, ein Krieg zwischen Pakistan und Indien könne China zum Eingreifen veranlassen, und dies würde einen möglichen Kriegseintritt Rußlands zur Folge haben.
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