: „Sitzenbleiben bis zum Endsieg“
Streikende in Rußland weiten ihre Aktionen aus. Forderungen nach Jelzins Rücktritt werden laut. Kommunistische Duma-Abgeordnete sammeln Unterschriften für eine Amtsenthebung des Präsidenten ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Gestern traten die Mitarbeiter sämtlicher kohlefördernder Betriebe der Russischen Föderation in einen unbefristeten Streik. Die Arbeitsniederlegung verblaßt allerdings vor den konkreten Aktionen der Werktätigen. Unter der Losung „Sitzenbleiben bis zum Endsieg!“ blockieren nicht nur Bergleute, sondern die Bevölkerung ganzer Städte den Eisenbahnverkehr in einem Großteil der Russischen Föderation. Nie in der gesamten Geschichte der russischen Eisenbahn ist der Verkehr so lahmgelegt worden, nicht einmal während des Bürgerkrieges in den 20er Jahren.
Am Mittwoch hatte die kommunistische Duma-Fraktion über 150 Unterschriften gesammelt, genug für ein Impeachment gegen den Präsidenten. Dessen Erfolg schließt die Verfassung allerdings praktisch aus. Er erforderte mehrfache Zweidrittelmehrheiten in beiden Kammern und eine Zustimmung des obersten Gerichts. Zu allem Überfluß sind die Anschuldigungen der Kommunisten gegen Jelzin juristisch kaum haltbar. „Das ist ein Versuch der Kommunisten, sich nachträglich auf die Geleise zu setzen“, sagte Alexander Schochin, Sprecher der Fraktion „Unser Haus Rußland“.
Ebenfalls gestern traf Präsident Jelzin mit Ministerpräsident Sergej Kirijenko und den Vorsitzenden beider Parlamentskammern zusammen. Kirijenko eklärte, er habe über 500 Millionen Rubel direkt in die streikenden Regionen geleitet. Die Summe reiche aus, um die dringendsten Probleme der Bergleute zu lösen. Ganz andere Mittel aber benötige die von den Streikenden geforderte Umstrukturierung der Bergwerksregionen. Das Ende der Regierungssitzung war vor dem späten Abend nicht abzusehen.
Fast alle Minister hatten sich bereiterklärt, anschließend in diverse Streik-Regionen auszuschweifen. Auf besondere Aufmerksamkeit stieß die Erklärung des stellvertretenden Premiers Boris Nemzow, sofort nach Ende der Sitzung in das Donezk-Dorf Schachty zu fahren. Dort will er bleiben, bis die Züge wieder fahren.
Inzwischen formulieren die Streikenden im ganzen Land ihr eigenes Impeachment gegenüber dem Präsidenten. So schickten zum Beispiel zwölf Grubenbetriebe der Vereinigung „Oblkemerowougol“ an Jelzin eine Resolution, in der es unter anderem heißt: „Ein wesentlicher Teil der russischen Bürger lebt heute unter dem Existenzminimum. Niemand kann eine heranwachsende Generation zu stolzen Persönlichkeiten erziehen, wenn ihre Eltern keinen Lohn erhalten, wenn die Gebote: ,Du sollst nicht stehlen, und du sollst nicht morden‘ rundum nicht erfüllt werden und wenn es keine Perspektive für die Zukunft gibt. Wir haben kein Recht, den Platz des heutigen Regimes in der Geschichte zu bestimmen. Aber diese Zeit ist auch ein Teil unseres Lebens. Wir verlangen nicht, daß Sie sich eine Kugel in den Kopf schießen – so etwas muß jeder Mensch für sich selbst entscheiden. Aber wir fordern Sie auf, Mut zu beweisen und freiwillig zurückzutreten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen