Berge in Bewegung

■ Schweizer bleiben gern zu Haus: Die 20. Solothurner Literaturtage beschäftigten sich mit dem schönen Thema "Wandern und Wohnen"

Wer am Sonntag abend in der „Kulturzeit“ eines öffentlich- rechtlichen Fernsehsenders etwas über den kleinen Schweizer Ort Solothurn erfahren wollte, wurde nicht enttäuscht: Ein Beamter der Fremdenpolizei drückte dort offenbar bei eingeschleusten jungen osteuropäischen Frauen beide Augen zu, damit sie in Solothurn als Prostituierte arbeiten konnten. Wie es scheint, erhielt der Beamte seinen Lohn in „Naturalien“: Bei ihm wohnten ständig eingewanderte Frauen.

Seit 20 Jahren ist „Solothurn“ ein markantes Datum: Jedes Jahr eine Woche vor Pfingsten treffen sich hier Schweizer AutorInnen mit KollegInnen aus dem Ausland, um ihre neuen Bücher zu diskutieren. Sie alle schätzen die lockere Atmosphäre, meilenweit entfernt von Klagenfurt mit seinem Medienrummel. „Wandern und Wohnen. Vom Schreiben zwischen Sprachen, Ländern und Kulturen – vom Schreiben auf der Suche nach einem eigenen Ort“ lautete das Thema der 20. Solothurner Literaturtage. Neben der aus Rumänien emigrierten Herta Müller saßen der in Österreich lebende Bosnier Dzevad Karahasan und Emine Sevgi Özdamar, die deutsch schreibende Berliner Türkin, auf dem Podium. Einigkeit darüber, was als Heimat zu bezeichnen sei, war nicht erkennbar, allenfalls, daß man sich als Schriftsteller lieber auf die Sprache beruft, die laut Karahasan nicht „verkitscht werden kann“.

Herta Müller dagegen fürchtet die Gefahr einer Ideologisierung der Sprache. Mit ihrer verknappten, eingedampften Prosa und (neuerdings) Lyrik hat sie eine Form gefunden, den Verletzungen Ausdruck zu geben — jenseits von Erklärung und Deutung. Emine Sevgi Özdamar übt sich in einem ungleich spielerischeren und leichteren Stil. Ihre Schreibweise ist die Fortführung ihrer Theaterarbeit: So wie der Schauspieler den Wörtern einen Körper gibt, so körperlich faßt sie die Sprache auf, wenn sie Begriffe aus dem Türkischen direkt wörtlich übersetzt. Ihr Kommentar zur Möglichkeit eines Mißbrauchs der Sprache: „Die Zunge hat keine Knochen, man kann sie drehen und wenden, wie man will.“

Während die Ausländer auch in ihren Texten meist in Bewegung sind, bleiben Schweizer lieber an einem Ort und setzen die Gegend in Bewegung. Lawinen und Erdrutsche verschütten die Dörfer und Landschaften. Franz Hohlers Novelle „Die Steinflut“ erzählt die Geschichte eines Glarner Dorfes, das 1881 von einem Steinschlag verschüttet wurde. Aus der Sicht eines kleinen Mädchens, das, von Vorahnungen geplagt, sich auf den Weg ins Nachbardorf macht, holt Hohler die Ereignisse aus der Vergangenheit herauf. Ihn interessiert dabei auch die „Vorstellung einer Natur, die letztlich stärker ist als wir und zurückschlägt“.

Auch bei Margit Schriber geht es um die Natur, die sich rächt. Ihre Erzählerin läßt in einer Rachephantasie die dumpf-dumme Dorfbevölkerung eines abgelegenen Tals von einem Schneebrett erfassen und in die Tiefe reißen. Von ganz anderer Provenienz ist da der Text von Friederike Kretzen. Sie beschreibt reale Bergrutsche und Geröllawinen, die sich wieder zu Bergen auftürmen, die Zerstörtes und Verschüttetes in sich bergen. Hügel dagegen können nicht soviel unter sich begraben, und darum erscheinen die ihr nicht so bedrohlich. „Ich bin ein Hügel“ heißt Kretzens neuester Text über eine Mädchenpubertät.

Die Solothurner Literaturtage glänzen immer auch mit Prominenz. Günter Grass war in diesem Jahr eingeladen und las zur Abwechslung aus seinen Gedichten. Lesungen und eine Ausstellung zu Ehren Otto F. Walthers suchten etwas von der Arbeit und Bedeutung des Schweizer Autors und Verlegers – einem der Gründungsväter der Solothurner Literaturtage – zu vermitteln.

Die Solothurner Jugendherberge, traditionelle Wandererunterkunft, gab den Ort für eine Installation aus Anlaß des 20. Jubiläums der Literaturtage. Man wanderte, oder besser: schlängelte sich zwischen Büchern hindurch – an Fäden aufgehängten Büchern all jener AutorInnen, die im Laufe der Jahre hier gelesen hatten. An den Wänden hingen die Plakate, auf eine Leinwand wurden Zitate projiziert. Dieses stammt von Kurt Marti: „Solothurn macht stark. Solothurn macht schwach. Solothurn ist schön.“ Trotz des riesigen Barockdoms, unter dem hingeduckt die kleine Stadt liegt. Gebaut vom Basler Fürstbischof, der, nachdem die Basler Patrizier ihm die Herrschaft abgekauft hatten, abwandern mußte – nach Solothurn. Ursula Vogel