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"Überall Soap-opera-Figuren"

■ Auch in Indien sind einige der alten Werte verrutscht: Das Fernsehen zeigt MTV, die Jugend reist zum Ecstasy-Trip nach Goa, und Schwule leben identitätsbewußt. Ein Gespräch über das neue Bombay mit dem indisch

taz: Viele Leute in Bombay sagen, daß sich die Stadt in den letzten vier, fünf Jahren unglaublich verändert hat. Sie haben dafür den Begriff der „kulturellen Liberalisierung“ gebraucht. Was ist damit gemeint?

Riyad Vinci Wadia: In Indien lief die Vermittlung von Nachrichten und Informationen über „westliche Lebensstile“ bis vor wenigen Jahren noch sehr langsam, entsprechend weit lebten wir davon entfernt. Als ich beispielsweise 1979 zum erstenmal in London war, kam ich mit einem echten Schatz zurück: Am Tag meines Rückflugs war die neueste Abba-LP erschienen, und ich war der erste Mensch in Bombay, der diese Platte besaß. Abba war damals an meiner Schule unglaublich populär, deswegen war diese brandaktuelle Platte für uns Kinder ein großes Ereignis – in Indien wurde sie erst knapp zwei Jahr später verkauft.

Wir trafen uns ständig, um die Platte zu hören, und ich fotokopierte das Cover und die Texte für alle meine Freunde. Anfang der 80er, als Video-und Kassettenrecorder Einzug gehalten hatten, etablierte sich dann ein System, bei dem Angestellte der Fluglinien schlecht kopierte Kassetten in unsere Videotheken brachten. Das gab viel Ärger, weil es Schmuggelware war – und weil man sich in Indien politische Sorgen über zunehmenden westlichen Einfluß machte. Aber wir wollten unbedingt teilhaben an dem, was das Time Magazine als letzte kulturelle Errungenschaft in den USA oder beim „Grand Prix d'Eurovision“ feierte. Wir verwendeten ungeheure Energien darauf, über die „richtigen“ Videotheken den Anschluß nicht zu verpassen.

Das änderte sich ganz plötzlich, als 1992 „Star-TV“ mit fünf Kanälen, unter anderem MTV und „Star Plus“, in Indien empfangen werden konnte – das war ein krasser Einschnitt, der den Beginn dieser „kulturellen Liberalisierung“ ganz eindeutig markiert. Zuerst wurden auf den indischen Kanälen zwar nur die zehn Jahre alten Episoden von „Bold and Beautiful“ und „Santa Barbara“ abgenudelt, aber die TV-Anstalten begriffen schnell, welches Werbepotential sie damit verschenkten. Und heute werden Filme und CDs in Indien fast zur gleichen Zeit wie in den USA oder in England auf den Markt geworfen.

Also war vor allem Zeit der bestimmende Faktor?

Für meine Generation – ich bin 1968 geboren – war es auch unglaublich wichtig, nicht immer „Dritte-Welt-mäßig“ hinterherzuhinken! Aber entscheidender ist sicherlich, daß zum Beispiel die Schicksale der Soap-opera-Figuren plötzlich überall – auf der Straße, am Arbeitsplatz, in der Familie – Gesprächsthema wurden und daß damit das mediale Amerika in den Alltag der ganzen Gesellschaft eindrang. Als „Rap“ modern wurde, fingen die Leute an selber Kapuzenpullover zu tragen. Zwar gab es solche Kleidung hier nicht zu kaufen, aber man imitierte sie, so gut es ging – obwohl die Bronx-Mode ja nicht besonders gut zu unserem heißen Klima paßt.

Es lief bei allen Trends auf „indisierte“ Versionen hinaus. Ein aktuelleres Beispiel wäre Goa, und wie von dort aus die westliche Drogenkultur mit Kokain und Ecstasy in den indischen Großstädten Einzug gehalten hat. Die Leute aus Bombay und Delhi haben mit den Ausflipp-Drogen-Reisen nach Goa erst angefangen, als in den Zeitungen stand, daß dieser Promi-Ami oder jener berühmte Engländer dort war. Inzwischen bildet die indische „Szene“ die Mehrheit der Goa-Touristen, die internationalen Trendsetter haben sich längst in andere Gegenden abgesetzt.

Hatte die Elterngeneration auch Anteil an dieser „kulturellen Liberalisierung“?

Der Abstand zwischen den Generationen hat sich enorm vergrößert! Das bringt viele Probleme mit sich, hat aber auch den Vorteil, daß die amerikanische Kultur nicht ganz so massiv und schnell alles Indische verdrängt. Wenn Kinder und Jugendliche auch den ganzen Tag MTV sehen – die Eltern schauen sich das nicht an. Doch das genügt für weitreichende Veränderungen. Heute kommt es beispielsweise nicht mehr vor, daß Mädchen in einer Bar von Gleichaltrigen als „Nutte“ angesehen werden, wenn sie einen Minirock oder ein hautenges T-Shirt tragen. Dagegen erinnere ich mich genau, wie eine Freundin von mir Mitte der 80er mit Netzstrümpfen in der Schule auftauchte, nachdem sie Madonna in „Material Girl“ gesehen hatte – und fast alle Klassenkameraden sie daraufhin für ein gefallenes Mädchen hielten. Solange ich zur Schule ging, gab es in meiner Klasse nur einen Jungen, der ein Mädchen geküßt hatte! Händchenhalten im Kino war das Äußerste, was wir anderen gewagt haben. Heute existiert das Wort „Nutte“ nicht mehr als Schimpfwort in der Jugendkultur, und wenn es zur Eheschließung kommt, fordern immer mehr junge Leute „Liebesheiraten“ nach amerikanischem Vorbild und revoltieren gegen die arrangierten Ehen.

Das kommt für Sie ja ohnehin nicht in Frage?

Auch für Schwule hat sich – und ich komme wieder zurück zu „Star-TV“ – unglaublich viel verändert. In amerikanischen Talkshows wird andauernd über Sexualität geredet, und irgendwann haben die indischen Medien die Themen übernommen. Vorher gab es einfach kein öffentliches Reden über Homosexualität, Transvestismus usw.

Mir scheint es, als seien die indischen Medien geradezu sexbesessen!

Aber nur, wenn man sich auf die englischsprachigen konzentriert. Man darf nicht vergessen, daß nur etwa drei Prozent der indischen Bevölkerung englischsprachige Medien zur Kenntnis nehmen. Das sind bei unserer Bevölkerungszahl immer noch 30 Millionen – und zu denen zählen natürlich alle „Meinungsmacher“, bis hin zu den Redakteuren der nordindischen Regionalzeitungen. Das hat im Laufe von ganz wenigen Jahren atmosphärisch zu einem kulturellen Wandel geführt, der gewaltig und drastisch ist.

Dazu haben Sie als Filmemacher auch beigetragen, vor allem mit „Aida“, dem Porträt einer transsexuellen Operationssüchtigen, und „Bomgay“, einer experimentellen Dokumentation über die Schwulenszene der Stadt. Verstehen Sie sich als Aktivist?

Durch die Filme, aber auch durch die Art, wie ich mich kleide, was ich sage und wie ich regelmäßig in den Zeitungen zitiert werde, habe ich mich wirklich zum „bunten Hund“ gemacht und bin so was wie der Sprecher von Bombays Schwulenszene geworden. Außer mir gibt es in Bombay nur zwei ältere Schwule, die sich hin und wieder öffentlich zu dem Thema äußern! Ich versuche, in öffentlichen Zusammenhängen immer die Frage zu stellen, was es eigentlich bedeutet, „schwul“ zu sein – um die Unterscheidung zu „homosexuell“ deutlich zu machen. Schwulsein hat für mich nur sekundär eine sexuelle Bedeutung und meint vielmehr etwas Kulturelles. Als jemand, der sich in Bombay für eine schwule Kultur nach westlichem Vorbild einsetzt, bin ich fast automatisch in die Rolle des Aktivisten gerutscht. Damit ernte ich natürlich auch in meiner Szene viel Widerspruch von Leuten, die sagen, daß die schwule Szene in Indien nicht einfach so die westlichen Verhaltensmuster übernehmen sollte. Mit dem Resultat, daß ich mein „Paradiesvogeldasein“ und die vielen Interviews oft wirklich satt habe, wenngleich ich zugeben muß, die Vorzüge – von Einladungen bis hin zu neuen Bekanntschaften – durchaus zu genießen.

In Indien gibt es seit März eine neue Rechtsaußen-Regierung. Wird sich für homosexuelle Menschen in Indien die Situation ändern?

Es könnte gut sein, daß Schwule – ebenso wie alle Nicht-Hindus – von diesen Macho-Politikern weiter an den Rand gedrängt werden, und das sind keine rosigen Perspektiven. Aber das Wahlergebnis reflektiert zugleich auf fast wohltuende Art zum erstenmal seit Jahrzehnten, was durch die Politik der korrupten Congress-Partei immer heruntergespielt oder ignoriert wurde. Die Mehrheit der Inder ist einfach sehr konservativ, rassistisch und religiös. Insofern spiegelt die jetzige Regierung mit größerer Ehrlichkeit die durchaus brisante Stimmung im Land. Ich schätze, daß mit dieser Regierung der Anfang vom Ende des zentralistisch regierten Indien eingeläutet wurde. Die einzelnen Staaten werden in Zukunft eine immer größere Eigenständigkeit für sich beanspruchen.

Wie sehr viele jüngere, westlich orientierte Leute wollen auch Sie unbedingt und „für immer“ aus Bombay wegziehen. Was treibt Sie – abgesehen von der Neugierde – fort von hier?

Ich stamme aus einer Parsenfamilie, die seit 18 Generationen in Bombay lebt. Die Parsen spielten in Bombay eine ganz wichtige Rolle, seit es diese Stadt gibt – und diese Herkunft wirkte sich in den verschiedenen Situationen meines Lebens höchst unterschiedlich aus. Seit vier Generationen ist Englisch die erste Sprache in meiner Familie – und allein dadurch haben wir uns kommunikativ vom restlichen Indien entfremdet. Als Sohn einer liberalen, privilegierten Familie habe ich eine Erziehung genossen, die mich gelehrt hat, gegen das Klassensystem in unserem Land zu sein. Was ein bequemer Standpunkt ist, wenn man ganz oben in dieser Hierarchie zu Hause ist. Das ist die eine Seite des Lebens im westlichen Ghetto von Bombay – doch wann immer ich auf die Straße gehe, schlägt mir das andere Indien ins Gesicht. Während wir hier sitzen und essen, geben wir zum Beispiel völlig selbstverständlich das halbe Monatsgehalt eines Angestellten aus. Auf dem Rückweg haben wir vielleicht nicht einmal zwei Rupees für die nächste Person, die bettelnd ans Autofenster klopft. Im Unterschied zu dem Bettler an der Londoner U-Bahn, der vielleicht durch eine unglückliche Drogengeschichte in seine Obdachlosigkeit geraten ist, ist in Indien Armut allgegenwärtig und kein individuelles Schicksal.

Vor diesem Hintergrund muß ich in Bombay jede Minute bewußte oder unbewußte Entscheidungen treffen: Wem gebe ich etwas? Wem verweigere ich meine Hilfe? Als Parse schreibt mir meine Religion vor, 30 Prozent meines Einkommens zu wohltätigen Zwecken abzugeben. Ehrlich gesagt, schaffe ich das nicht – ich bringe es vielleicht auf 10 Prozent, auch das gewährt mir eine kurzfristige moralische Erleichterung. Aber wenn man anfängt, über dieses Leben nachzudenken, wird man unglaublich müde und depressiv – denn meine Ressourcen reichen nicht aus, um an diesem System irgend etwas zu ändern. Und da wird der Gedanke, von hier wegzugehen, plötzlich sehr attraktiv: Ich hätte gerne ein weniger kompliziertes, normaleres Leben als hier in Bombay. Interview: Dorothee Wenner

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