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Das ganze urbane Chaos

■ Bizarres Hervorkommen und plötzliche Titelblatt-Hysterie: Die schwülstigen Rock-Hymnen von The Verve verkaufen prächtig

Für The Verve werden die anglizistischen Varianten des Heraus- und Zurückkommens seit einem Jahr neu ausgelegt. Von „Newcomern“ wird gerne geredet. Dabei hatte der britische Fünfer schon beim Erscheinen des hymnischen 6-Minuten-Epos „Bitter Sweet Symphony“ im vergangenen Juli sechs Jahre und zwei Alben auf dem Bacckatalog-Buckel. Von einem sogenannten „Comeback“ sprechen Pop-Gemüter andernorts. Denn dabei wird vorausgesetzt, daß ein Künstler schon zuvor von irgend jemandem registriert wurde. Also auch hier: Fehlanzeige.

Ein – sagen wir – „Coming out“ ohne seinesgleichen konnten Sänger und Ex-Junkie Richard Ashcroft sowie sein Antipode, Gitarrist Nick McCabe, im vergangenen Jahr zelebrieren. Ihre „Bitter Sweet Symphony“ wurde der elegische Sommer-Indie-Gassenhauer, die Rolling Stones hatten mit dem von ihnen entwendeten „The Last Time“-Sample endlich wieder einen Grund zum Klagen und selbst der anmaßende Titel des dritten Albums, Urban Hymns, schien schließlich wenigstens zur Hälfte gerechtfertigt.

Denn wenn schon überhaupt nicht großstädtisch, so waren auch die schwülstigen Folge-Singles „The Drugs Don't Work“ und „Lucky Man“ zumindest die heimlichen Gitarren-Pop-Hymnen, die von Oasis stets erhofft wurden: balsamierende Akustik-Gitarren, epische Streicher, zaghafte Psychedelic- und Noise-Anleihen, eine dunkle Kehlkopfstimme und nicht zuletzt eine – passend zu „The Drugs Don't Work“ – ausschlachtbare Drogenvergangenheit. Da nützte es nichts, daß Ashcroft sich beeilte zu erklären, daß 14jährige seine plakative Drogenabsage ohne die nötige Lebenserfahrung sowieso nie verstehen werden. Die Urban Hymns hatten bereits in ebenso vielen Plattenschränken dieser Welt ein Zuhause gefunden wie beispielsweise U2s The Unforgettable Fire: über sechs Millionen Mal.

Wie so oft entstand die Titelblatt-Hysterie erst aus den Möglichkeiten des Chaos. Nicht einmal eine Tour im Vorprogramm von Oasis und die Tatsache, daß Noel Gallagher seinen Song „Cast No Shadow“ im Booklet „dem Genie von Richard Ashcroft“ widmete, brachten Verve vorerst die verdiente Beachtung. Bei den Aufnahmen zu A Northern Soul zerstritten sich McCabe und Ashcroft schließlich so schroff, daß letzterer die Band auflöste und lapidar behauptete, daß es „nicht mehr das gleiche Gefühl wie früher“ sei. Bald darauf revidierte Ashcroft, daß er „in die Welt gesetzt“ wurde, „um ein Teil von The Verve zu sein“. Seit Verve nun, wie Ashcroft bereits nach seiner geschwänzten Schul-Abschlußprüfung prophezeit hatte, ihr „Coming out“ hatten, übertrumpfen sich Ashcroft und Gallagher in Interviews gegenseitig mit größenwahnsinnigem Gefasel und klopfen einander nicht zu sparsam auf die Schulter.

„Let The Weights Come Off That Confuse You“, singen Verve selbst in „Come On“ zur Debatte des Irgendwoher-Kommens und meinen damit wohl auch sich selbst.

Timo Hoffmann

Di, 9. Juni, Sporthalle, 19 Uhr

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