: Tanz der Zehennägelschneider
■ „Die wunderbaren Jahre“: Ein ungewöhnliches Tanztheaterprojekt stellt sich im Schlachthof vor
Wenn sechs- bis, naja schätzen wir mal, zwölfjährige Mädchen geigen, genauer gesagt, pantomimisch geigen, dann sieht das so aus: Eines winkt Ade, eines fächelt mit einem fiktiven Staubwedel, eines zuckelt mysteriös mit dem Handgelenk vor dem eigenen Gesicht, der nächsten scheint die imaginäre Geige aus dem Bauch zu wachsen. Die noch unbehauene Muskulatur der Kids ist nicht synchronisierbar. Auch nicht ihr Vorstellungsvermögen. Während die einen sich versonnen einer wunderbaren Feenmusik hingeben, scheinen die anderen noch kein rechtes Gespür für Musik zu haben. Und so wird aus einem Gruppentanz die Summe von unverwechselbaren Einzelvorstellungen.
Diese Unterschiede und Unkalkulierbarkeiten seiner 22 AkteurInnen kommen Helge Löschmann gerade recht.
Der junge Bremer Psychologe, der über eine rudimentäre Tanzausbildung verfügt, arbeitet – dank BSHG 19 (die andere Form von ABM) – seit etwa drei Monaten an einem Tanztheaterprojekt mit sogenannten Laien. In deren Körpern sind die unterschiedlichsten „Vorgeschichten“ abgespeichert. Einige haben ein paar Jahre Ballettunterricht in den Knochen und Sehnen stecken, andere einen Flamencoworkshop, die meisten aber nicht viel mehr als die tägliche Fron des Treppensteigens, Fernbedienungsknöpfedrückens, Raviolidosenöffnens und Zehennägelschneidens. Löschmanns Intention kann es natürlich nicht sein, Susanne Linke und Urs Dietrich hinterherzuhecheln.
Am Anfang stand eben nicht die große, fixe, fertige Idee einer ambitionierten Inszenierung, zu deren Realisierung man sich universal knetbarer Körper bedient, wie man sich Hammer und Schraubenzieher bedient. Bei dem Stück „Die wunderbaren Jahre“ funktionierte alles anders herum. Löschmann sah sich die Leute, die ihm der Zufall in seinen Kurs spülte, genau an. Jene Bewegungen, die ihm spannend oder liebeswert erschienen, prägte er sich ein und collagierte daraus ein Stück. Am Anfang also standen die Menschen.
O-Beine, Schüchternheit, Wirbelsäulenkrümmung, weiche Stimme, schlecht durchgestreckte Knie: All jene äußeren und inneren Eigenheiten, die sich einer athletischen Tanzauffassung sperren, kommen hier zu ihrem Recht. Der vorsichtige Gang eines Übergewichtigen hat ein Ausdruckspotential, wenn er das sein darf, was er ist und sich nicht zu verstecken sucht. Auch die zaghaften, ungeführten Armbewegungen einer Teeniefrau haben etwas zu erzählen, vielleicht von einer Vorsicht, von der keine ausgebildete Ballettmuskulatur mehr weiß.
Die Idee zu dem humanistisch-liberalen Projekt brachte Löschmann aus Amiland mit. In N.Y.C. arbeitet ein gewisser David Dorfman allerdings nicht nur mit Menschen verschiedener Fertigkeitsstufen, sondern auch mit verschiedenen Generationen. Opas liegen, kauern und schwingen das Bein zusammen mit ihren Enkeln, nicht zuletzt um im gestischen Spiel eine Nähe zurückzuerobern, die in dem Schlamassel des Alltags abgesoffen ist.
Hier in Bremen verunmöglichten genau zwei Menschengruppen die Idee vom Tanz als Ort großfamiliärer Wiederbegegnung: die Alten und die Männer. Klar, daß Menschen über 30 eine gewisse Angst hegen vor unreglementiertem Ganzkörpereinsatz. Daß aber selbst unter den Knirpsen gerade mal ein Bub dabei ist, frustriert all jene, die an den Erfolg des Feminismus glauben. Trotzdem blieb es beim Thema Familie. Die ganze Truppe trug Sätze und Gefühle zusammen zu den Themen Einzelkind, ältestes Kind, Lebenstraum, liebste Tätigkeit, schönstes Spielzeug und Väter, die als Schokoladenvertreter arbeiten. Aus diesen biographischen Schnipseln wurde in Gemeinschaftsarbeit ein Stück gebaut, daß in angenehm freier Weise pendelt zwischen Inhalt und Abstraktion, zwischen Solo, Paarkonstellationen und Gruppenformationen.
Letztlich verifiziert dieses Theater ein altes Punkideal: Auch Nichtkönnen und Unvollkommenheit hat seinen unnachahmlichen Charme. Die Eleganz in den Armen einer hochschwangeren, schwerfällig gewordenen Flamencotänzerin ist unbedingt sehenswert! bk
Premiere: 6. Juni, 19 Uhr, imSchlachthof. Weitere Aufführungen am 7. und 8. Juni um 19 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen