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Reisen und gereist werden in Hinterindien

Touristen in Indochina bleiben von den Einheimischen meist völlig abgegrenzt. Schuld daran trägt nicht nur staatliche Reglementierung. Die Unbeholfenheit der Besucher, auch der „Individualtouristen“, tut ein übriges. Am liebsten ist man doch unter sich  ■ Von Otfried Schöttle

Wer wahrlich „sanften Tourismus“ erleben will, muß nach Indochina reisen. Da lenkt das Militärregime von Birma, das sich jetzt lieber Myanmar nennt, den Touristen auf klassischer Route zwischen Rangun und Mandalay haarscharf an aufständischen und unterdrückten Minderheiten vorbei. Da registriert die laotische Regierung den Reisenden von Provinz zu Provinz. Da besteht in Vietnam ein eigens für Touristen bestimmtes Minibus-System, weil die normalen Linienbusse dem Ausländer entweder verwehrt oder nicht zugemutet werden sollen. Die Traveller übernachten in Hotels für Ausländer, lokale Pensionen sind nur Einheimischen zugänglich. Und in Kambodscha zeichnen seit Jahren die Khmer Rouge und andere bewaffnete Banden mit brutalen Überfällen dafür verantwortlich, den Tourismus in bestimmte Bahnen zu lenken.

Vorbeigeleitet am normalen Volk, reist der Tourist von einem Höhepunkt Indochinas zum nächsten. Nicht selten beschränkt sich der Kontakt zu den Einheimischen auf das Hotelpersonal, den Taxifahrer, Touristenführer oder Souvenirverkäufer vor Angkor Wat oder zwischen den Tempeln von Pagan. Freilich, Urlaubsbekanntschaften gibt es reichlich. Gerne unterhält man sich mit seinem amerikanischen Nachbarn im Fünf-Dollar-Guesthouse über schlimmer gewordene Straßenverhältnisse und den besten Weg zum nächsten Ziel. Oder schlürft zusammen mit der netten Französin sein Bier an der Bar von Saigons Apokalypse Now. Man trifft sich im Kreis internationaler Reisender. Und das Schöne daran: Die Chancen stehen gut, den eben kennengelernten Weggefährten auch an der nächsten, über- und überübernächsten Station wiederzutreffen.

Indochina ist klein für die Welt des westlichen Reisenden. Wer kein Englisch kann, dem hilft die Reisegruppe eines Pauschalveranstalters weiter. Diese Gruppen übernachten vier Sterne besser als der Backpacker, gelangen im gecharterten Bus von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, und der Kontakt zu den Einheimischen ist gänzlich auf den Postkarten-Verkäufer vor dem Ho-Chi-Minh- Mausoleum reduziert.

Ein gutes Beispiel für die Verhältnisse in Indochina ist Kambodscha. Bis zu Beginn der 70er Jahre florierte der Fremdenverkehr im Land. Ein Zug verband die Hauptstadt Phnom Penh mit Bangkok, und ein Badeort wie Sihanoukville lockte durch asiatische Gastfreundschaft und das Flair unaufdringlicher französischer Eleganz. Im Nordwesten restaurierten französische Wissenschaftler gemeinsam mit kambodschanischen Kollegen die großartigen Tempel von Angkor, die seit ihrer Entdeckung vom Westen Kunstinteressierte und Abenteurer anzogen. Mit dem Überschwappen des Vietnamkrieges auf Kambodscha und der damit einhergehenden Schreckensherrschaft Pol Pots endete das augenscheinliche Idyll des Khmer-Staates. In wenigen Jahren fielen dem grausamen Steinzeitkommunismus des Diktators mehr als zwei Millionen Menschen zum Opfer, überwiegend Städter, Intellektuelle und im Land verbliebene Ausländer.

Heute ist das einst nahezu ausgestorbene Phnom Penh zwar wieder mit knapp einer Million Menschen bevölkert, verliebte junge Paare flanieren an den Ufern des Tonle-Sap-Flusses, und Siem Reap, der Ausgangspunkt zu den Tempeln von Angkor, ist nach Jahren von Überfällen wieder weitgehend sicher. Der Bürgerkrieg zwischen Regierungstreuen, Khmer Rouge und organisierten Banden schwelt aber noch immer. Unter diesen Voraussetzungen entwickelt sich ein beklemmender westlicher Kultur-, Abenteuer und Geschäftstourismus. Es kommen die Kunstliebhaber, die nach kurzem, zwangsweisem Aufenthalt in Phnom Penh nach Angkor weiterreisen, um die Tempel der alten Khmer zu besichtigen. Es kommen die Sensationslüsternen, denen der „abenteuerliche Kick“ anderer Länder fehlt und denen Kambodscha ein breites Feld makabrer Touristenattraktion bietet: die Massengräber von Choeung Ek oder das Konzentrationslager in der ehemaligen Schule Tuol Sleng und viele Kriegskrüppel. Dazwischen finden sich ausländische Diplomaten, Journalisten oder Angehörige der UN. Egal, welchen Geschäften man tagsüber in Pnom Penh nachgeht, am frühen Abend trifft man sich unter seinesgleichen und genießt den romantischen Sonnenuntergang über dem Tonle Sap im Journalistentreffpunkt oder an der französischen Bar Cactus bei Bier, Pommes frites und Steak. Schlag 9 Uhr löst sich die Gesellschaft wieder auf. Vor den bewaffneten Banden, die dann in der Hauptstadt ihr Unwesen treiben, haben sogar hartgesottene Abenteurer Respekt.

Die nächste Station der Touristen ist Siem Reap, Ausgangspunkt zu den Tempeln von Angkor. Die Begüterten wählen den bequemen Flug. Die Backpacker treffen sich am Pier unter der Japanese Bridge. Hier könnte echter Kontakt zur Bevölkerung stattfinden. Doch der Lonely Planet-Führer warnt, sich nicht in die Kabine des ausrangierten malayischen Bootes zu setzen. Nicht immer überstehen die Schnellboote die Fahrt und sinken. Nur der Sitz auf dem Dach bewahrt den Reisenden vor dem sicheren Tod durch Ertrinken. Die Einheimischen, an Risiken gewöhnt, schützen sich in der Kabine vor unliebsamer Sonne. Der vorsichtige Fremde verbringt die Fahrt im Kreise der Seinen auf dem Dach und starrt auf das Treiben am Fluß. Nach der Ankunft sechs Stunden später entfleuchen die Khmer unbehelligt, während die zehn oder fünfzehn westlichen Reisenden auf eine fünfzig Mann starke Front von Motorradtaxifahrern treffen. Die wittern ein einträgliches Geschäft, wenn sie den Ankömmlingen mit ihrem Vehikel die Tempel Angkors erschließen. Nach Zerren und Drängen hat sich der Reisende entschieden: Ein Kontakt zu einem Einheimischen für die nächsten Tage ist sichergestellt.

Der Fahrer kümmert sich rührend, zeigt nicht nur einen Tempel nach dem anderen, sondern stattet auch der eigenen Familie einen Besuch ab. Und die empfängt den westlichen Gast mit offenen Armen, neugierig auf seine Erzählungen und sein Verhalten. Wenn man von finanziellen Grundlagen absieht, sind Alltagsprobleme in Kambodscha eben auch nicht so anders als in Deutschland: die Frage nach der richtigen Kindererziehung, Liebeskummer oder Streß bei der Arbeit.

Es ist Abend geworden in Siem Reap. Die Besucher der Tempel sind zurück in ihrem Hotel. Auf den dunklen Straßen tummeln sich nur noch Einheimische, schlürfen an einem der Essensstände ihre kambodschanische Suppe. Auf der Veranda des Naga Guesthouse versammelt sich währenddessen eine Gruppe junger und junggebliebener australischer, amerikanischer und englischer Traveller. Einer ist bei dem Versuch, mit dem Bus über Land zu reisen, von Roten Khmer überfallen und ausgeraubt worden. Sein Abenteuergeist ist gründlich verblaßt. Touren abseits gewohnter Pfade will er zukünftig bleiben lassen.

In diese Gefahr kommen die Gäste im Grandhotel d'Angkor auf keinen Fall. Ihre Tour ist niet- und nagelfest: Zwei Tage Phnom Penh mit Nationalmuseum, Königspalast und anderen Sehenswürdigkeiten. Abendessen und Übernachtung jeweils im Hotel. Dann Flug nach Siem Reap. Am Tage Besichtigungen der Tempel. Am Abend zum Dinner im Hotel, begleitet von traditionellen Khmertänzen. Die Investoren aus Thailand importieren Tennisplätze mit Flutlicht, großzügige Swimmingpools und andere Annehmlichkeiten. Der Luxus des Westens schützt sich hinter dicken Zäunen. Dank französischen Kolonialstils darf sich der Bewohner in Zeiten europäischen Herrscherdrangs zurückversetzt fühlen. Und wie von einst gewohnt, schätzt der Gast auch heute die Freundlichkeit des dienenden einheimischen Personals.

Über diese Devotion der Khmer schimpft der Chinese Yi Xiau. Er besitzt seit zwei Jahren ein kleines Hotel mit Restaurant, das auf den Geschmack der Einheimischen ausgerichtet ist. Doch die bleiben aus: „Die haben zu wenig Geld“, meint er. Die Präsenz der Tempel verleite die lokale Bevölkerung zum Betteln, Verkauf von Souvenirs, in anderen Worten, zur Faulheit. Jede Initiativkraft sei lahmgelegt, und der Aufbau einer tourismusfremden Industrie werde versäumt. Wenn das so weitergehe, müsse er seinen Laden schließen oder sich auf die Backpacker als Kunden einstellen.

In Erwartung des Sonnenuntergangs sind am nächsten Abend alle Besucher von Angkor auf dem Berg Phnom Bakheng versammelt. Ein Sprachengewirr: Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch und Deutsch. Nur vereinzelt vernimmt man einen Laut Khmer von einem der Souvenirverkäufer. Es herrscht eine vertraut feierliche, fast familiäre Stimmung unter den Anwesenden. In solch phantastischer Atmosphäre südostasiatischer Abenddämmerung paßt dann auch die Exotik von Einheimischen, die sich lächelnd mit allerlei Mitbringseln und Getränken den Wartenden nähern. Man gibt sich Mühe: Ein, zwei nette Worte werden ausgetauscht, dann blockieren mangelnde Sprachkenntnisse das Gespräch, und eigentlich wäre man doch lieber allein. Alleine mit der stimmungsvollen Atmosphäre der weiten Tonle-Sap- Ebene, allein mit dem wunderbaren Blick auf den prächtigen Tempel von Angkor Wat, alleine mit seinen neuen Freunden – das kleine Khmermädchen, das den Besucher mit seinen Postkarten langsam zu nerven beginnt, stört da eigentlich nur.

In Indochina stoßen drei Welten aufeinander: Westen und Osten, Kapitalismus und Kommunismus, Reichtum und Armut. Das Flugzeug verbindet diese Welten in wenigen Stunden; die Kluft der Gegenwarten, die hier zusammentreffen, ist indes tief und läßt sich nur langsam überwinden. Reisen nach Indochina überfordern nicht nur den geschichtsinteressierten Angkor-Besucher, der zwar staunend vor den Zeugnissen der alten Khmer-Kultur steht, mit der neuen jedoch nur wenig anzufangen vermag. Hinterindien verwirrt auch die Tourismuspolitiker und -unternehmen, die zugunsten des Gewinnes gerne Anstand in die Ecke und zwecks sauberer Moral selbige auf den Kopf stellen. Und so bleibt am Ende all jenen, die mit gänzlich weißer Weste jeden Winkel dieser Erde bereisen wollen – nichts.

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