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Das Atom-Symbol auf der grünen Wiese

25 Jahre Widerstand gegen den Atomstaat: Das AKW Brokdorf. Teil 2 und Schluß: Die Anti-Atom-Bewegung, die SPD und der Hamburger Kessel 1986  ■ Von Kai von Appen

Die Anti-Atom-Bewegung der 70er Jahre verändert die politische Landschaft. Auf Bundesebene gründen sich nach lokalen Wahlerfolgen die Grünen, in Hamburg zunächst Grüne, Bunte und Alternative Liste nebeneinander. Einige Gewerkschaften rücken zaghaft vom Pro-Atomkurs des Gewerkschaftsbundes ab. Nachdem Nordrhein-Westfalens SPD-Ministerpräsident Johannes Rau den Bau des Schnellen Brüters in Kalkar am Niederrhein stoppt und Niedersachsens CDU-Regierungschef Ernst Albrecht die geplante Wiederaufarbeitungsanlage im wendländischen Gorleben als „politisch nicht durchsetzbar“ zu den Akten legt, kommt es auch in Hamburgs Sozialdemokratie zum Flügelkampf. Während sich Bürgermeister Hans-Ulrich Klose gegen den Bau des Atomkraftwerks Brokdorf stark macht, mobilisieren die Rechten um Henning Voscherau und Parteichef Werner Staak für den Pro-Brokdorf-Kurs und wollen sogar mit Schleswig-Holsteins CDU-Landesvater Gerhard Stoltenberg paktieren.

Den Funken für ein neues Aufflammen der Anti-Atom-Bewegung legt aber das Oberverwaltungsgericht Lüneburg, als es im Dezember 1980 den Brokdorf-Baustopp aufhebt. Zu Weihnachten versammeln sich wieder 8000 Menschen auf den grünen Wiesen vor dem Bauplatz und versuchen, „symbolisch“ einen Teil des Zaunes herauszureißen. Es kommt wieder zu massiven Schlachten um das Kraftwerksgelände. Auch die SPD in Schleswig Holstein setzt sich nunmehr offiziell für den Ausstieg aus der Atomenergie ein und organisiert in Kiel eine Kundgebung mit 4000 Genossen gegen das AKW.

Erstmals klinken sich in den Disput auch einzelne Gewerkschaften ein. Als am 2. Februar 1981 in Hamburg 12.000 Demonstranten vom SPD-Landesparteitag die Aufgabe des Pro-Atomkurses fordern, gehören offiziell die Gewerkschaften Handel Banken und Versicherungen, IG Druck und Papier, Erziehung und Wissenschaft sowie die Gewerkschafts-Jugend zu den Organisatoren.

Politisch kommt es zu einer für Hamburgs SPD ungewöhnlichen Situation: Trotz des Pro-Brokdorf-Votums des Landesvorstands stimmt der Parteitag mit 198 zu 157 Stimmen gegen den Bau des Atommeilers in Brokdorf durch die Hamburgischen Electricitätswerke (HEW), auch der Senat plädiert mit sieben zu sechs Stimmen gegen den Weiterbau. Doch der Hamburger SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt entscheidet sich für den Weiterbau – notfalls ohne die HEW, sondern durch die bundeseigene VEBA-Tochter PREAG, der wiederum die NWK gehören, die die HEW-Anteile an Brokdorf übernehmen sollen. Der Bau geht weiter, Bürgermeister Hans-Ulrich Klose muß zurücktreten.

Derweil rüsten die reaktivierten Anti-Atom-Initiativen zur nächsten Großdemo am Bauplatz, nachdem Stoltenberg den Weiterbau angeordnet hat. Mitte Februar 1981, eine Woche vor einer geplanten Demonstration, verhängt der Landrat des Kreises Steinburg ein „generelles Demonstrationsverbot“ für die gesamte Wilster Marsch. Dennoch lassen sich am 28. Februar trotz klirrender Kälte über 100.000 Menschen das grundgesetzlich verbriefte Versammlungsrecht nicht nehmen. Den Demonstranten gelingt es, die Polizei zur Aufgabe der Straßensperren zu bewegen oder diese Barrieren über die Felder zu umgehen. Obwohl die Kundgebung am Bauplatz friedlich verläuft, setzt die Polizei zur Räumung an. Hubschrauber setzen Greiftrupps auf den Wiesen ab, Spezialeinheiten machen Jagd auf Demonstranten. Der Lautsprecherwagen des Hamburger Gewerkschafter-blocks mit 10.000 Menschen in Schlepptau wird angegriffen und gekapert.

Der Kriminalisierungsversuch der Anti-Atom-Bewegung erreicht seinen Höhepunkt, als die Itzehoer Staatsanwaltschaft wenige Tage nach der Demonstration per Foto im Magazin stern öffentlich nach zwei Demonstranten wegen „versuchten Mordes“ fahndet und ein Kopfgeld ausschreibt. Das Bild zeigt den Beamten Rolf Schütt vom saarländischen Sondereinsatzkommando (SEK), dem zwei Demonstranten mit Knüppel und Spaten auf den Helm schlagen, nachdem er bei einer Verfolgungsjagd in einen Wassergraben gerutscht ist. Was die Staatsanwaltschaft wissentlich verschweigt, die später die Anklage auf gefährliche Körperverletzung und Landfriedensbruch reduziert: Der Beamte blieb bei dem Vorfall unverletzt.

Dennoch verurteilt der Itzehoer Landrichter Manfred Selbmann im Frühjahr 1982 die angeblichen Schläger Michael Duffke aus Bremen und den Brunsbüttler Schüler Markus Mohr zu fünfeinhalb und drei Jahren Gefängnis. Kommentatoren großer Zeitungen geißeln das Urteil als „Bürgerkriegsjustiz“ (Die Zeit), durch die das „Demonstrationsverbot nachträglich gerechtfertigt“ (Frankfurter Rundschau) werden soll. Für den Versuch, die taz hamburg von der Berichterstattung über den Prozeß auszuschließen, wird das Landgericht vom Bundesverfassungsgericht gerügt.

Im November 1982 bekunden über 15.000 Menschen auf Veranstaltungen in Hamburg, Bremen und Neumünster ihre Solidarität mit den Verurteilten Markus Mohr und Michael Duffke. Beide werden frühzeitig aus der Haft entlassen.

Als im Juni 1986 das AKW Brokdorf kurz nach dem Super-GAU im russischen Tschernobyl Ende April ans Netz geht, bäumt sich die Anti-Atom-Bewegung nochmals auf. Doch die Fahrt in die Wilster Marsch endet für den Hamburger Zug in einem Fiasko. Obwohl die Kundgebung bis auf einen Sperrgürtel von 400 Metern grundsätzlich erlaubt worden ist, überfallen bei Kleve Polizei-Sonderkommandos den Hamburger Konvoi, nehmen zahlreiche Personen fest und zerdeppern Autos und Busse. Nach mehreren Stunden kehren die Hamburger Teilnehmer frustriert in die Elbmetropole zurück.

Bereits am nächsten Tag, dem 8. Juni, kommt es zu einem spontanen Protest auf dem Hamburger Heiligengeistfeld gegen den Überfall von Kleve. Die Hamburger Polizei umzingelt das Gros der Atomgegner und kesselt 869 Menschen zum Teil 13 Stunden lang ein, bevor sie in die Gefangenensammelstellen gebracht werden. Eine Solidemo Hamburger Taxifahrer, die am Abend den Eingekesselten zur Hilfe kommen wollen, mischen Polizisten kurzerhand auf, zahlreiche Taxis werden demoliert.

Die Bilder vom „Hamburger Kessel“ lösen bundesweit Entrüstung aus. Die Szenen von Menschen, die stundenlang ohne Wasser und Verpflegung zusammengepfercht stehen und ihre Notdurft vor hämischen Blicken der Beamten versehen müssen, vergleicht SPD-Fraktionschef Jan Ehlers wenig später mit den Zuständen im Stadion von Santiago de Chile nach dem Militär-Putsch des Pinochet-Regimes.

60.000 Menschen demonstrieren drei Tage später in Hamburg gegen den Kessel. Das Verwaltungsgericht spricht später den Opfern jeweils symbolische 200 Mark Schmerzensgeld zu. Innensenator Rolf Lange und Staatsrat Peter Rabels (beide SPD) müssen zurücktreten, die vier hauptverantwortlichen Polizeiführer Klaus Rürup, Heinz Krappen, Alfred Honka und Lothar Arthecker werden im größten Prozeß der Hamburger Nachkriegsgeschichte vom Landgericht der „Freiheitsberaubung in 869 Fällen“ für schuldig befunden.

Doch das Atomkraftwerk Brokdorf bleibt am Netz. Auch die allmonatlichen gewaltfreien Blockaden ebben nach und nach ab. Doch die Bedenken gegen die Atomenergie bleiben bestehen; in allerjüngster Zeit von den Atomkonzernen selbst durch den Castor-Transportskandal nachhaltig genährt.

Das nächste Kapitel in Sachen Brokdorf schreibt das Oberverwaltungsgericht Schleswig. Es verhandelt ab dem 17. Juni über die Anfechtung der Betriebsgenehmigung für den Reaktor durch den Brokdorfer Karsten Hinrichsen. Auch nach 25 Jahren will der den Widerstand gegen das AKW nicht aufgeben.

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