: Der Expreß steht im Sackbahnhof
Eine kleine deutschsprachige Zeitung in Kaliningrad ist am Ende: Die Rußlanddeutschen lesen lieber die örtliche „Prawda“, deutsche Heimwehtouristen kommen nur zur Stippvisite ins einstige Königsberg ■ Aus Kaliningrad Gabriele Lesser
„Derr Zug! Wirr haben so auf den Zug gewarrtet!“ Jelena Lebedewa spricht mit dramatisch-melodiösem Akzent: „Berrlin-Königsberg. Die alte Verrbindung nach Ostpreußen. Wirr haben gedacht, wenn errst der Zug wieder fährt, wird sich alles änderrn: Kaliningrad wirrd seinen alten Namen zurückerhalten, so wie Leningrad heute wieder Sankt Petersburg heißt. Die vielen Touristen werrden ein anderes Lebensgefühl in unsere Stadt bringen, die Sonne wirrd Tag und Nacht scheinen.“ Jelena lacht ein tiefes Lachen voller Selbstironie: „Natürrlich, ich übertreibe. Aber so ist der Königsberger Express entstanden, die Zeitung von Kaliningradern für Königsberger. Und alles in deutscher Sprrache!“
Das winzige Redaktionsbüro befindet sich im Kaliningrader Pressehaus, einem tristen Kasten aus den 70er Jahren, in dem sonst für russischsprachige Redaktionen gearbeitet wird. Im siebten Stock, eingequetscht zwischen Wand und Schreibtisch, hackt Alexej Schabunin auf das Tastenfeld eines Computers ein. Der junge Russe hat sich Deutsch im Selbststudium beigebracht und spricht es perfekt. Die Zeitung ist sein ein und alles. Schabunin schreibt die politischen Artikel über das heutige Kaliningrad und ist offensichtlich bestens informiert. Neben dem Computer liegt der Spiegel und der Duden. An der Wand hinter ihm hängt nicht etwa die Karte des alten Ostpreußen und heutigen Oblast Kaliningrad, sondern die von Deutschland.
Doch die Geschäftigkeit in der Kaliningrader Miniredaktion täuscht. Den beiden Herausgebern neben Elena Lebedewa der Bildjournalist Igor Sarembo, steht das Wasser bis zum Hals. Der Königsberger Express steht kurz vor der Pleite. „Wenn kein Wunder geschieht“, so die 45jährige Journalistin, „müssen wir in zwei, drei Monaten aufgeben.“ Der deutsche Verleger Ewald Rautenberg aus dem rheinischen Troisdorf, sagt die Herausgeberin weiter, „investiert nicht in die Entwicklung der Zeitung. Er zahlt uns eine so niedrige Provision, daß wir davon zwar gerade noch leben können, aber für das Gehalt von Alexej, für Miete, Strom, Wasser usw. bleibt fast nichts.“
Igor Sarembo, dessen Bilder über den Afghanistan-Krieg auch in westlichen Medien erschienen sind, steckt noch voller Enthusiasmus: „Wir brauchen besseres Papier, Farbe, eine frischere Aufmachung und vor allem einen neuen Titel. 1993 klang Königsberger Express so wie der Zug von Berlin nach Königsberg. Aber heute? Heute ist klar, daß Kaliningrad niemals umbenannt wird. Der Titel der Zeitung ist sinnlos geworden. Wir suchen einen neuen.“
Die fünf Jahrgänge auf dem Schreibtisch wirken plötzlich, als habe ein böser Zauberer sie in einen Haufen Altpapier verwandelt. Der Express, ein zusammengelegtes Konvolut aus hektographierten Din-A4-Blättern, bemüht sich trotz der zusammenkopierten Ästhetik wie eine richtige Zeitung auszusehen. Hier wird über den Jubel der „Kaliningrader Fans des Freistilringens“ berichtet, dort über „Aids im Kaliningrader Gebiet“, auf einer Seite interviewt man den Kaliningrader Bürgermeister, dann geht es um den Diebstahl in früheren Kolchosen („nimmt zu“) und um die „Fischerei in der Ostsee nach der Jahrtausendwende“ („kann keine großen Sprünge mehr machen“). Dazwischen hat der Verlag einige wenige Anzeigen für Heimweh- Reisen plaziert: Zielgruppe für die Verleger: ehemalige Ostpreußen. Über 2.000 Abonnennten hat das Blatt, vor allem in Deutschland. Revisionistische Inhalte sucht man jedoch vergebens.
Auch der Direktverkauf an deutsche Touristen in Kaliningrad läuft schleppend. Die Preise in Kaliningrad sind so hoch, daß die Touristen zumeist in Litauen übernachten und nur per Stippvisite besichtigen kommen. Die Rußlanddeutschen greifen meist nach der Kaliningradskaja Prawda. Die „Muttersprache“ beherrscht kaum jemand von ihnen.
„Als Kaliningrad kein militärrisches Sperrgebiet mehr war“, so Elena Lebedewa in charakterisch melodiösem Ton, „haben Igor und ich deutsch gelernt. Mit unserer Zeitung wollten wir den Königsbergern, die heute nach Kaliningrad kommen, ein bißchen Heimatgefühl geben. Wir wollten zeigen, daß sie herzlich willkommen sind, auch wenn den meisten heute die Stadt grauenhaft häßlich vorkommt.“ Igor Sarembo seufzt: „Es ist schwerer, als wir dachten. Anders als die Vertriebenenblätter in Deutschland bekommen wir ja keine Zuschüsse. Und so ist der Königsberger Express in einen Sackbahnhof gefahren. Aber...“, und hier springt Sarembo auf, wirbelt mit den Armen durch die Luft: „Wir spielen Anhalter und winken allen Lokomotiven zu: ,Nehmt uns mit! Hallo! Hier sind wir! Nehmt uns ein Stückchen mit!‘“
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