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Triumph des Rechts der Stärkeren

Seit 150 Jahren dokumentiert die Fotografie Verbrechen und Verbrecher, Opfer und Outsider. Doch erst jetzt wird mit Ausstellungen wie „Police Pictures“ die Einzigartigkeit der erkennungsdienstlichen Bilder erfaßt  ■ Von Rainer Stamm

Eine Spur des Verbrechens zieht sich durch die Geschichte der Fotografie; sie ist gesäumt mit Tätern und Opfern, Tatorten und Tatwaffen. Seit ihrer Erfindung dient die Fotografie der Dokumentation, zur Beweisaufnahme und Archivierung.

Bereits 1995 präsentierte Aad Speksnijder, Herausgeber und Verleger des niederländischen Kunstbuchverlags DUO DUO, den Bildband „Moord in Rotterdam“. Für diese Publikation sichtete er 236 Kisten mit Aufnahmen der Rotterdamer Polizei aus den Jahren 1905 bis 1967. Ende letzten Jahres nahm sich das San Francisco Museum of Modern Art mit „Police Pictures“ des Genres an, jetzt wird die international besetzte Retrospektive in der New Yorker Grey Art Gallery präsentiert. Das Foto als Beweismittel: Bereits frühe Daguerreotypien aus dem Jahr 1850 zeigen Sklavenarbeiter mit entblößter Brust en face und im Profil. Der anthropologische Blick bereitet den kriminalistischen vor, schon 15 Jahre später wird das junge Medium für Steckbriefe genutzt.

Für das San Francisco Museum recherchierte die Fotokuratorin des Hauses, Sandra S. Phillips, in mehr als fünfzig Polizeiarchiven und Bibliotheken in Amerika und Europa und stellte aus ihren Funden ein gleichermaßen schockierendes wie faszinierendes Panoptikum von Verbrechern und jenen, die dafür gehalten wurden, zusammen. Zu sehen sind Täter und Opfer, dead or alive.

Auf einer Aufnahme vom Ende des letzten Jahrhundertes sind aufständische Indianer zu sehen, auf dem Foto sind sie mit Namen beschriftet, wohl zur besseren Archivierung. Friedensrichter John T. Mason katalogisierte zur gleichen Zeit im kalifornischen Downieville chinesische Einwanderer nebst ihren besonderen Kennzeichen. Und als bereits Gerichtete sieht man Leichen der Aufständischen der Pariser Commune oder zwei der Söhne des Königs von Delhi, die an dem Mord englischer Kolonisten beteiligt waren und für das Verbrechen gehängt wurden (1857). Während diese Aufnahmen aus der Sicht des Siegers den martialischen Triumph des Rechts über das Unrecht präsentieren, vermögen andere „nur“ zu verwalten: Aus Archivblättern und Karteikarten sehen einen die Augen der Gefangenen des kalifornischen Gefängnisses San Quentin an. Jeweils dreifach wurden die Inhaftierten dokumentiert: in Straßenkleidung, mit Hut und ohne und schließlich im Sträflingsdreß. Auch hier triumphiert die Macht des Stärkeren – daß ein letzter Kampf noch im Studio des Fotografen ausgetragen wurde, zeigen die Porträts des 1892 inhaftierten Einbrechers John Baker, dessen Kopf mit zwei Händen festgehalten wird. Doch seine Augen sind trotzig geschlossen, ein letztes Aufbegehren gegen den Zugriff der Kamera.

Durchnumeriert und katalogisiert erscheinen Opiumraucher aus China Town (1910–1935) und Prostituierte aus San Francisco (1946); diese Begegnungen im Kunstmuseum sind schockierend und kompromittierend zugleich. Sie vermitteln den Positivismus der Obrigkeit in seiner ureigenen Form, der Bürokratie; doch der Blick – über die Zeiten hinweg – in das Gesicht der Betroffenen stellt eine anarchische Verbindung her und macht hilflos zugleich.

„Gun Moll“ Bonnie Parker ließ sich vor ihrer letzten Schießerei mit Revolver in der Hand und Zigarre im Mund ablichten; George R. „Machine Gun“ Kelly schaut selbstbewußt in die Kamera, und Marie Cirechia, eine „geständige Mörderin“, lehnt sich mit verwegenem Blick aus einem Wagen und sieht der Kamera ins Objektiv.

Der Betrachter sitzt in der Klemme zwischen authentischem Beweisstück und der ästhetischen Faszination der Bilder. Mit derselben Ambivalenz begannen bald auch Kunstfotografen zu arbeiten. So stattete Eugène Atget um 1925 eine Ausgabe von Cesare Lombrosos berüchtigtem Buch über „La femme criminelle et la prostituée“ mit 37 (vorwiegend pornographischen) „Belegen“ für die Thesen des italienischen Arztes und Psychiaters aus. In den dreißiger und vierziger Jahren entdeckte der Bildreporter Weegee (Arthur Fellig) Täter und Tatorte als künstlerische Bildgattung und fotografierte auch in Gefängnissen.

Mit Aufnahmen aus Archiven der Polizei, der Presse und der Kunst, mit Beispielen aus 150 Jahren Fotogeschichte zudem, präsentiert „Police Pictures“ erstmals eine Bestandsaufnahme des Genres. Doch das Thema liegt in der Luft; nahezu zeitgleich widmet sich die amerikanische Fotozeitschrift Aperture in ihrem jüngsten Heft (Nr. 149) dem Sujet, Museen in Winterthur und Bern zeigten Carl Durheims Fahndungsfotografien von Nichtseßhaften (siehe taz, 8.5.), und das Züricher Museum für Gestaltung kündigt für kommenden Herbst eine Ausstellung „Tatort. Die Requisiten der Beweisführung“ an. Nach den Spielarten der Inszenierung und Verfremdung, des Artifiziellen und Selbstreferentiellen in der Kunst lassen sich AusstellungsbesucherInnen einmal mehr von dem Reiz des Authentischen begeistern.

Mit „Police Pictures“ wird die fotografische Spielart einer unverbrüchlichen Echtheit präsentiert, für die BesucherInnen der Mannheimer „Körperwelten“ bis zu fünf Stunden anstanden. Zugleich fügt sich das Thema in die aktuellen Auseinandersetzungen um „otherness“ ein, oder – wie Sandra S. Phillips sagt: „Wir brauchen die Kriminellen, denn sie sind nicht wir. Verbrechen sind Verstöße, die nicht von ,normalen‘ Menschen begangen werden, sondern von denen, die wir als außerhalb der Norm brandmarken.“ – In den historischen Fotografien bekommen die Outsider von einst jedoch etwas von ihrer beklagenswerten Normalität zurück.

„Police Pictures. The Photograph as Evidence“. Bis 18. Juli, Grey Art Gallery, New York. Der Katalog ist in Deutschland über die edition stemmle für 59,80 DM zu beziehen.

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