In den Müllhalden von Dallas

■ Neu im Kino: „Auf der Kippe“ von Andrei Schwartz / Intime Fragen und offene Antworten im Portrait einer Roma-Siedlung auf einer Deponie im rumänischen Cluj

Die Müllkippe ist eine der stärksten Metaphern der Gegenwart. Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis ein Filmemacher auf die Idee kommen würde, einen Müllberg als Mikrokosmos der zeitgenössischen Gesellschaft zu beschreiben.

Der in Bukarest geborene und in den 70er Jahren nach Deutschland übergesiedelte Andrei Schwartz hat in der rumänischen Stadt Cluj (Klausenburg) eine Romasiedlung von 25 Familien entdeckt, die auf und von einer Müllkippe leben. „Dallas“ nennen sie selbst ihre illegale Ansammlung von Blechhütten: „Kennen Sie nicht den Film mit Bobby und Pamela? Die ganze Verwandtschaft hat da mitgespielt. So wie wir hier.“

Und tatsächlich bringt uns der Filmemacher die Zigeuner (so seine eigene Wortwahl; um political correctness schert er sich wenig) schnell als einen großen Clan von genau beobachteten Menschen nahe. Denn zum Glück ist sein Film weder eine deprimierende Klage über das Elend der Welt noch eine ethnologische Studie mit pittoresken Bildern von einem merkwürdigen Völkchen geworden.

Schwartz geht ganz nah an die Bewohner der Müllkippe heran, und gibt von Anfang an den pseudo-objektiven Standpunkt des Dokumentarfilmers (der angeblich nur aufnimmt, und möglichst unsichtbar bleibt) auf. „Ich“ ist eines seiner ersten Worte im Kommentar, und er erzählt im Laufe des Films auch immer, wie die Roma auf ihn und seine Kamera reagiert haben.

Damit dokumentiert und bewältigt er die Unschärfe, der kein Dokumentarfilmer bei seiner Arbeit entgehen kann: Durch die Dreharbeiten selbst wird die gefilmte Realität immer verändert, und nur ein Filmemacher, der auch dies deutlich macht, ist ehrlich. Schwartz zeigt am Ende des Films sogar, wie er seine „Darsteller“ bezahlt. Für einen traditionellen Dokumentarfilmer eine Todsünde, hier aber nur konsequent; und man weiß inzwischen ja auch genau, wie nötig und wofür die Roma das Geld brauchen.

Denn Schwartz ist wunderbar neugierig, will genau wissen, wie diese fast autarke Gesellschaft funktioniert und stellt viele, sehr detaillierte und manchmal auch intime Fragen: Wie können zwei Liebende überhaupt miteinander schlafen, wenn acht Leute sich nachts zwei Betten teilen müssen? Wieviele Pfennige bekommt man für einen Sack Altpapier, und wieviel Brot braucht die Familie zum Überleben? An den offenen Antworten erkennt man, wieviel Vertrauen die Leute von „Dallas“ zu Schwartz gefaßt haben, und da verzeihen wir ihm auch gerne, wenn er es manchmal ein wenig zu dick aufträgt (so, wenn er stolz erzählt, die Großmutter des Clans habe ihn als Enkel adoptiert).

Schwartz vermeidet es geschickt, die Allerwelts-Emotionen (Faszination, Mitleid, Ekel) zu wecken, dazu ist sein Film viel zu komplex und präzise. Sechs Monate lang filmte er in der Siedlung. In dieser Zeit starben erschreckend viele der Dallas-Bewohner – bei einem Feuer verbrannte etwa eine ganze Familie in ihrer Hütte „bis auf die Knochen“. Aber wir sehen auch, wie die Kinder (extra gewaschen) in die Schule gehen, und erfahren später, daß keiner von ihnen sitzenbleibt. Schwartz zeigt, wie alle im Sommerregen zur Musik aus dem billigen Cassettenrekorder tanzen, und wie eine Gruppe Jugendlicher in die Stadt pilgert, um dort im Kino begeistert den indischen Spielfilm „Unermeßliche Liebe“ zu sehen.

Als stärkster Eindruck bleibt, daß das Leben auf der Kippe erstaunlich gut organisiert ist, und die Menschen trotz der Armut und der harten, dreckigen Arbeit nie abgehärmt oder verzweifelt wirken. Um so verstörender ist da der lakonische Satz eines Kindes, das den Tod seines gerade geborenen Brüderchens kommentiert: Das wäre ein Glück, sie wären eh schon zu viele, und warum soll noch einer sein Leben lang im Müll wühlen? Solche Sätze wurden im anderen „Dallas“ nie gesprochen!

Wilfried Hippen

Das Filmbüro Bremen zeigt „Auf der Kippe“ in der „Igel“-Reihe heute abend um 20.30 sowie am Do. und Fr. jeweils um 18.30 Uhr im Kino 46