Kein Gummistiefel mehr

■ Geheimfavorit Norwegen hegt auch selbst große WM-Hoffnungen, weswegen der Berliner Profi Kjetil Rekdal will, "daß es endlich losgeht"

Montpellier (taz) – Nervös? Nein, nervös ist Kjetil Rekdal nicht. Allenfalls angespannt, ein bißchen unruhig und von Tag zu Tag etwas ungeduldiger. Weil das Warten immer schwieriger wird. Wohin mit der Zeit, die nur langsam dahinschleichen will? „Wir sind gut vorbereitet“, sagt der 29jährige Profi von Hertha BSC Berlin vor dem heutigen WM-Auftakt gegen Marokko, „wir haben keine Verletzten, und wir sind alle in bester Verfassung. Doch, es wird Zeit, daß die Weltmeisterschaft endlich losgeht.“

Wer sich fit fühlt, mag nicht mehr trainieren. Der will spielen und sich endlich daran machen dürfen, die offenen oder klammheimlichen Zielsetzungen in die Tat umzusetzen. Die Hoffnungen der Norweger vor dieser WM sind nicht gering. Zwischen Kristiansand im Süden und Spitzbergen im Norden brodelt das Wikingerland. „Die Erwartungen der Leute bei uns sind sehr hoch“, weiß der 66fache Nationalspieler, „da wird von Halbfinale und sogar Finale geredet.“ Einen Moment lang erweckt er den Anschein, als könne das schon ziemlich belasten, dann lacht er kurz, „aber gespielt werden muß schon noch erst.“

Nein, Rekdal und seine Kollegen sind nicht nervös. Der imponierende Durchmarsch in der Qualifikation und einige herausragende Ergebnisse in Freundschaftsspielen wie etwa das 4:2 am 30. Mai 1997 in Oslo gegen Weltmeister Brasilien, auf den sie in Frankreich in der Vorrunde treffen, hat dem norwegischen Fußballer die Brust breit werden lassen.

Auch wenn sie den Nachbarn so arg nicht mögen, Schweden ist das Vorbild. Die kamen vor vier Jahren in den USA aus dem Nichts und wurden Dritte. „So eine Rolle könnte ich mir vorstellen“, sagt Rekdal, der an norwegische Auftritte anno 94 nicht mehr allzuviel Gedanken verschwenden will. Ein 1:0-Sieg gegen Mexiko (Torschütze Rekdal), eine 0:1-Schlappe gegen zehn Italiener und ein 0:0 gegen mauernde Iren, das waren zwar vier Punkte, aber doch nur der letzte Gruppenplatz und der frühe K.o. „Die vier Punkte waren in Ordnung“, meint Rekdal, „unsere Leistungen nicht. Aber heute sind wir spielerisch viel besser.“

Ein Verdienst von Egil Olsen ist das. Der norwegische Nationaltrainer hat seiner Mannschaft Profil gegeben. Hinten verteidigt eine variable Viererkette, die von den Mittelfeldspielern unterstützt wird, und bei Ballbesitz geht es mit langen Pässen sofort Richtung gegnerisches Tor. Auf die Frage, warum Olsen kompromißlos den weiten Schlag aus der eigenen Hälfte bevorzugt, wissen norwegische Fußballkenner zwei Antworten zu geben. Die eine handelt von dem gewieften Taktiker, der herausgefunden haben soll, daß bei den Weltmeisterschaften seit 1966 die Mehrzahl aller Tore nach Angriffsaktionen fielen, denen vier oder weniger Pässe vorausgingen. Die andere Antwort ist banaler: Die meisten Nationalspieler üben ihren Job auf den britischen Inseln aus und kennen mithin das Spiel mit der hoch und weit fliegenden Lederkugel bestens. „Es gibt schon einige, die es gerne etwas anders hätten“, sagt dazu Kjetil Rekdal, und er verhehlt auch nicht, daß er selbst zu denen gehört, die den häufigen Ballkontakt vermissen, „aber eines ist sicher: bei uns gilt der Kollektivgedanke, und es gibt eben keine Ein-Mann-Show.“

Darauf achtet Egil Olsen in Frankreich das letzte Mal. Der Sportprofessor geht an die Universität zurück und das übrigens nicht in Gummistiefeln. Weltweit geht die Mär um, das Tragen von Gummistiefeln sei eine Marotte oder gar eine Art Markenzeichen dieses Mannes. Als die Norweger vor vier Jahren gescheitert waren, konnte man da und dort auch Spott lesen, sie hätten eben einen rechten „Gummistiefel“ zusammengespielt. „Das ist nur wegen seiner Krankheit“, erklärt Rekdal, „alles andere sind Geschichten.“ Der 56jährige Olsen leidet unter starkem Rheuma und muß Sorge dafür tragen, daß seine Füße nicht naß werden.

Auch der moderne Wikinger taugt eben noch für Märchen. Eine brennende Frage, auf die es an diesem Mittwoch in Montpellier eine erste Antwort geben kann: Für welches ist der Norweger gut bei dieser WM? Ralf Mittmann