: Eine Mark mehr für Stütze-Empfänger
■ „Zynisch“ finden Sozialhilfeempfänger, daß der Regelsatz um eine Mark pro Monat steigt / Aids- und Krebskranke Sozi-Empfänger müssen ab sofort auf 100 Mark im Monat verzichten
Als die Sozialhilfeempfänger begannen, den Roland mit schwarzem Tuch zu verhüllen, platzte einem Passanten der Kragen: „Es gibt genug Arbeit“, blaffte ein Mittfünfziger die DemonstrantInnen an. „Die Sozialhilfeempfänger müssen nur raus aus ihrer Lethargie“, setzte er nach.
Lethargie aber konnte gerade den 25 Menschen nicht vorgeworfen werden, die gestern auf den Marktplatz gekommen waren. „Wir nehmen keine Almosen, Herr Scherf“, stand auf den Flugblättern, mit denen die AktivistInnen gegen die Bremer Erhöhung des Sozialhilfe-Regelsatzes um exakt eine Mark pro Monat (von 539 auf 540 Mark) protestierten. Die Erhöhung wurde zeitgleich in der Sozialdeputation abgenickt.
„Sozial schwache Menschen brauchen das Gefühl, gut behandelt zu werden“, meint Eberhard Ihrke, selbst auf Sozi angewiesen. Die Anhebung um eine Mark ist für ihn „zynisch“ und ein Beweis dafür, daß die Entscheidungsträger keine Ahnung von den Verhältnissen der unteren Einkommensschichten haben. Auch für Herbert Thomsen von der Bremer Solidarischen Hilfe, Mitorganisator der Demonstration, ist klar: „Die 295.000 Mark, die die Anhebung in Bremen kostet, sind Peanuts.“ Die Forderung: Mindestens 30 Prozent mehr Sozialhilfe, um menschenwürdiger zu leben.
Aids- und Krebskranke, die von Sozialhilfe leben, bekommen in Bremen ab nächstem Monat sogar real weniger Geld: Auf mehr als 100 Mark müssen diese Menschen ab sofort verzichten. Denn Kranke können zusätzlich zur Sozialhilfe einen Mehrbedarf für gesunde Ernährung einfordern – bei Aids-Kranken waren das immerhin 179 Mark, bei Krebskranken 151 Mark pro Monat. Nun bekommen sie nur noch 50 Mark dazu. „Ein ziemlicher Hammer“, findet Helmut Oppermann von der Aids-Hilfe Bremen.
Weniger Geld wird Bremen auch für Schwerstbehinderte ausgeben: Seit 1972 gibt es das Landespflegegesetz (LPG), eines der wenigen „Leistungsgesetze“ Bremens. Schwerstbehinderte und Blinde werden monatlich mit Landesmitteln unterstützt. 750 Mark für den erhöhten Pflegebedarf können maximal bezogen werden. Ab 1.1.1999 aber sollen nur noch Blinde solche Gelder neu beantragen können – die Verwaltung arbeitet an der Streichung des Gesetzes.
Nach Darstellung der Sozialbehörde hat Bremen kaum eine Möglichkeit, anders zu handeln. Zwar sind für Sozialhilfe Land und Kommune verantwortlich. Doch mehrere Landesregelungen müssen an Bundesgesetze angepasst werden. So ist die Erhöhung der Sozialhilfe seit zwei Jahren bundesweit an die Rentenerhöhungen gekoppelt – und die betrug nur 0,23 Prozent. Bei 539 Mark Sozialhilfe sind das 1,24 Mark, abgerundet eine Mark.
Auch gegen die neue Berechnung für Mehrkosten von Aids- und Krebskranken könne man nichts tun, so Behördensprecher Holger Bruns: Maßgebliche Gutachten definieren den „notwendigen Bedarf“ eines Kranken anders, als das in Bremen in den letzten Jahren der Fall war. Die Streichung des Landespflege-Gesetzes schließlich sei nötig, da die Schwerst-Behinderten inzwischen durch die Pflege-Versicherung Geld für erhöhten Pflegebedarf bekommen.
Sachzwänge, die die sozialpolitische Sprecherin der Grünen, Caroline Linnert, nur im Fall der Sozi-Erhöhung voll nachvollziehen kann. „Wo ein Wille ist, ist auch ein Gebüsch“, so Linnert.
Christoph Dowe
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