: Die nationale Gerichtsbarkeit hat immer Vorrang
■ Von zentraler Bedeutung für die Unabhängigkeit des Gerichts, vor dem nur Personen angeklagt werden können, sind sein Verhältnis zum UN-Sicherheitsrat und die Befugnisse des Anklägers
Grundlage der Verhandlungen in Rom ist ein 168seitiger Entwurf für das Statut des International Criminal Court (ICC). Er enthält noch rund 1.400 Klammern zu strittigen Punkten. Zu den zentralen Kontroversen gehört die Frage der Komplementarität: des Verhältnisses zwischen dem ICC und den nationalen Gerichtsbarkeiten. In drei Punkten herrscht Konsens: Vor dem ICC können nur Personen angeklagt werden, keine Staaten oder Organisationen.
Der ICC hat nur Jurisdiktion über BürgerInnen derjenigen Staaten, die dem ICC durch Unterzeichnung und Ratifizierung des Statuts beigetreten sind. Nationale Gerichtsbarkeiten haben zunächst immer Vorrang, und der ICC kommt nur zum Zuge, wenn nationale Gerichtsbarkeiten nicht existieren, unfähig oder unwillig zur Strafverfolgung sind.
Doch wer stellt dies fest? Die „Gruppe der 48 Gleichgesinnten“ (G-48) plädiert dafür, daß der ICC eine zwar „begrenzte“, aber doch „hinreichende Befugnis“ zur Feststellung erhält, ob in einer konkreten Situation eine effektive nationale Gerichtsbarkeit vorhanden ist. „Begründete Zweifel“ allein reichen nicht aus, damit der ICC ein Verfahren an sich ziehen kann.
Diese Kompromißformulierung ist bereits ein Entgegenkommen der „G-48“ an die „Verhindererkoalition“. Doch die USA, Frankreich und andere Staaten plädieren weiterhin für beliebige Befugnisse nationaler Regierungen, die Zuständigkeit des ICC in jedem konkreten Fall abzulehnen.
Ähnlich beliebige Befugnisse wollen zahlreiche Länder den Nationalregierungen auch in der Frage einräumen, welche Art von Verbrechen vor dem ICC verhandelt werden können (Umfang der Gerichtsbarkeit). Die „G-48“ wollen die ausnahmslose Zuständigkeit des ICC festlegen für die vier „Kernverbrechen“ Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Angriffskrieg. Letzteres unter der Bedingung, daß das Vorliegen eines Angriffskrieges gemäß Artikel 39 der UNO-Charta zunächst vom Sicherheitsrat festgestellt werden muß und daß dieser Angriffskrieg das Ziel der Annexion oder dauerhaften Besetzung fremden Territoriums hat.
Auch dies ist bereits ein Kompromiß der „G-48“ an die „Verweigererkoalition“. Er hat zur Folge, daß militärische Aggressionen wie zum Beispiel die der USA gegen Grenada oder die US-Bombenangriffe auf Tripolis nicht unter die Jurisdiktion des ICC fallen. Die USA verbreiten seit einigen Wochen eine Liste zur Definition von Kriegsverbrechen, die von Deutschland und anderen Vertretern der „G-48“ als „sehr restriktiv“ bewertet wird.
Frankreich und Indien fordern, daß ein ICC-Verfahren nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Staaten eingeleitet werden kann, deren Bürger von dem Verfahren betroffen wären (etwa das Land des Beschuldigten, das Land der Opfer sowie das eventuelle Drittland, in dem ein Beschuldigter lebt bzw. festgenommen wurde). Iran, Mexiko, Indien, Frankreich u.a. wollen im Statut die Möglichkeit zu „nationalen Vorbehalten“ gegen ICC-Verfahren verankern, etwa unter Berufung auf die „nationale Sicherheit“, die „Vereinbarkeit mit der Scharia“ oder die „öffentliche Ordnung“.
Von zentraler Bedeutung für die Unabhängigkeit des ICC sind sein Verhältnis zum Sicherheitsrat und die Befugnisse des Chefanklägers. Nach den Vorstellungen der USA, Rußlands, Indiens, Mexikos und anderer Länder sollen Verfahren vor dem ICC ausschließlich durch Beschwerden des Sicherheitsrates oder eines bzw. mehrerer Länder ausgelöst werden können. Die „G-48“ verlangen, daß der Chefankläger die „ex officio“- Befugnis erhält und eigenständig ein Verfahren einleiten kann. Eventuellem Mißbrauch dieser Befugnis durch den Chefankläger soll eine Ermittlungskammer vorbeugen, die die Gründe für die Einleitung eines Verfahrens überprüfen und es notfalls auch wieder einstellen kann. Auch diese Regelung ist bereits ein gemeinsam von Deutschland und Argentinien eingebrachter Kompromißvorschlag an die Verhindererkoalition.
Wann immer der UN-Sicherheitsrat mit einer „bestimmten Situation befaßt“ ist (z.B. mit der Lage in Ruanda), soll er nach den Vorstellungen der USA und Frankreichs Ermittlungen und Verfahren des ICC, die in irgendeiner Weise mit dieser Situation zusammenhängen, automatisch blockieren können. Damit hätte der Rat vollständige Kontrolle über den ICC und könnte Verfahren um viele Jahre verzögern. Das auf Vorschlag Großbritanniens formulierte Kompromißangebot der „G-48“, wonach der Rat ICC- Verfahren nur durch einen einvernehmlichen Beschluß (das heißt bei Zustimmung aller fünf ständigen sowie mindestens vier nichtständiger Sicherheitsratsmitglieder) blockieren kann, schränkt die Unabhängigkeit des ICC ebenfalls erheblich ein.
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