: Naturgewalt Internet
■ betr.: Urteil gegen den Ex-Chef des Online-Dienstes Compuserve
Der Aufschrei war laut und einhellig: So geht der Standort Deutschland kaputt! Schuldig ist der Amtsrichter Wilhelm Hubbert, München, der ein Paukenschlag-Urteil fällte: Zwei Jahre Haft auf Bewährung für den Ex- Chef des Online-Dienstes Compuserve wegen Verbreitung pornographischer Inhalte. Der Angeklagte Felix Somm habe seinen Kunden jahrelang harte Kinder- und Gewaltpornographie „bis ins letzte Kinderzimmer“ geliefert, so der Richter in seiner Urteilsbegründung. Gerechnet hatte mit diesem Schuldspruch niemand. Selbst der Staatsanwalt plädierte auf Freispruch, nachdem Sachverständige dem Gericht erklärt hatten, Felix Somm habe keinen Einfluß auf die Inhalte des Internet- Dienstes nehmen können.
Da ist es also wieder: das Internet als Naturgewalt, gegen die weder die eigenen Manager noch Politik oder Justiz eine Chance haben. Mit dieser „Da kann man eben nichts machen“-Haltung können offenbar alle Beteiligten bequem leben. Doch plötzlich taucht ein rettungslos altmodischer Richter auf, der noch daran glaubt, daß in einem Rechtsstaat alle Gewalt vom Volke ausgeht. Daß die Verfolgung von Verbrechen nicht achselzuckend aufzugeben ist, nur weil die Straftat technisch schwer zu verhindern ist. Daß auch im Internet „rechtsfreie Räume“ nicht hinzunehmen sind, in denen mit der kriminellen Verbreitung von Kinderpornographie viel Geld verdient wird.
Klar, daß ein solcher Mann nun landauf, landab als „Ahnungsloser“ verhöhnt wird, der von den „Gesetzen“ des globalen Datentransfers nichts begriffen habe. Klar auch, daß sich der Verteidiger „entsetzt über das juristische Niveau des Urteils“ äußert: Man dürfe sich nicht wundern, wenn angesichts solcher Urteile Internet- Anbieter wie t-online demnächst aus Deutschland flüchten, mitsamt den vielen hochqualifizierten Arbeitsplätzen. Dabei übersieht der wütende Advokat allerdings, daß wirtschaftliche Standortfragen bei der juristischen Beurteilung eines Verbrechens keine Rolle zu spielen haben. Diese Erkenntnis sollte wohl auf dem „juristischen Niveau“ jedes Erstsemester-Studenten liegen.
Die Verbreitung von Kinderpornographie, die sexuelle Gewalt an Kindern und ihre Ausbeutung in Datennetzen sind Verbrechen an Kindern. Der Amtsrichter Wilhelm Hubbert verdient Respekt dafür, daß er gewillt ist, diese Verbrechen zu bestrafen. Erschreckend ist der Chor der „Experten“ – auch in den Medien – die eine solche Haltung „nicht mehr zeitgemäß“ finden. Wolf-Christian Ramm, Stephan Stolze, terre des hommes e.V.
Das Kinderhilfswerk terre des hommes betreibt seit 1997 die Kampagne „KiDs – Kinder in Datennetzen schützen“ gegen Kinderpornographie im Internet.
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