: Amor zwischen Galopprennbahn und Frisiersalon
■ „O amor natural“: Betagte Brasilianer vertiefen sich in die erotischen Gedichte von Drummond de Andrade. Ein begnadeter Film
Ein Hutmacher in Rio de Janeiro. 84 Jahre alt. Der Kamera reckt er Fotos entgegen von Sophia Loren, Queen Elizabeth und all den anderen Häuptern, denen er rote und beige Pfauenräder aufpflanzte. Doch das Filmobjektiv wischt eher desinteressiert über die VIPs hinweg, verbohrt sich viel lieber in des Hutmachers sehnige Hand. Was für ein Gewimmel von braunen Flecken. Vielleicht bedeutet Altern doch auch Reichtum.
Überhaupt gehorcht „O amor natural“ der Niederländerin Heddy Honigmann der erstaunlich ergiebigen Methode des Danebensehens. Vordergründig wird ein Dutzend Gedichte des brasilianischen Fastnobelpreisträgers vorgestellt. Eigentlich aber geht es vielmehr um Brasilien, das Alter, die Liebe, die Vergänglichkeit – und um die Frauen und Männer, welche Andrades Gedichte vorlesen, ihre Trauer über entschwundenes Glück, aber auch ihre respekteinflößende Restlebendigkeit.
„Ein großer Teil des lyrischen Werks Andrades beschäftigt sich mit dem heimatlichen Gebirge, mit Erz und der Einsamkeit“, heißt es in Kindlers Literaturlexikon. Im Alter zwischen 70 und 85 Jahren aber zog es Andrade unwiderstehlich auf ein weniger karges Terrain. Sein erotisches Spätwerk verschmilzt Hardware mit Poetereien, also Schenkel, Busen, vor allem aber Tausende von Hintern – lächelnde Hintern, halbmondige Hintern – mit Sternen, Wellen, Wolken, Meer. Bewaffnet mit dem erst posthum veröffentlichten Lyrikband „O amor natural“ streunt die Filmemacherin durchs lärmige Gewusel der Märkte, besucht die Galopprennbahn, den Altherrenfriseur, wunderbaren Sandstrand und wirft einen Blick ins Caféhaus. Wenn Kameras Arme hätten, dann würde diese ihre über die schnörkelige Fensterbrüstung hängen, locker und entspannt wie bei einem Nachbarschaftsplausch am Gartenzaun.
Auf ihrer Großstadtwanderung drückt Honigmann das Liebesbuch den Namenlosen aller Schichten in die Hand, aber auch der Aufnahmeleiterin einer Andradelesung, einer Frau aus einem Werbespot, einer früheren Geliebten, einer ehemaligen Leistungsschwimmerin, die in Leni Riefenstahls Olympiafilm verewigt wurde und mit 81 Jahren noch immer wacker mit Schmetterlingstechnik durchs Schwimmbecken pflügt – und eben Andrades Hutmacher.
Der allererste überraschte Spontanrezipient begrüßt die Kinogänger erst einmal frontal mit einem „Guten Tag“; denn es ist ein höflicher Film, ein herzlicher Film, der bei aller Offenheit niemals indiskretionslüstern wird. Als Mensch mit wild gezackter Zahnskulptur hat der freundliche Grüßer den Namen Andrade noch nie gehört: „Keine Ahnung“. „Interessiert mich überhaupt nicht“. Erst in der Sphäre der Menschen mit perfektem Zahnersatz und glänzendem Lippenstift über schrumpeliger Haut versteht man es, die sanft wallenden Verse Andrades zu goutieren. Vor allem aber öffnen die Gedichte die Erinnerungen an frühere Liebesabenteuer. Einmal scheinen sie aus einem wohlverschlossenen Geheimtresor – endlich, endlich – hervorzuquellen; meist aber liftet ein sonniges Lachen die Hautlappen in den Gesichtern der edlen Alten.
Die Regisseurin setzt eine Menge rührender, ergreifender, aber auch lustiger Statements frei. Ach, wie dieser Schelm Andrades die Frauen in seiner Fantasie auszieht, schwärmt ein Herr im Cafè. „Genau das, was wir beide hier täglich tun“, schmunzelt sein Begleiter zurück. Manchmal begegnen wir in diesem Film nicht nur einer anderen Generation, sondern auch einer anderen Ethik. „Ich kann es nicht verstehen, wie eine Frau das klaglos erträgt“, fragt die Filmemacherin jenen alten Mann, der sich seines Ex-„Lotterlebens“ brüstet und sich von seiner Ehefrau die Festgarderobe für die massenhaften Seitensprünge zurechtmachen ließ – und weicht das erste und einzige Mal ab von ihrer Strategie des wohlmeinenden Zuhörens.
Am schönsten aber sind die geduldigen Zooms, mitten hinein in reiche Gesichtslandschaften. Gütig werdene Augen und ein Zucken hier und da zeigen wie Wünschelruten verborgene Erinnerungen an.
bk
Im Cinema. Die Anfangszeiten können der Kinoseite entnommen werden
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen