: Einen unbestechlichen Rechtsstaat hat es nie gegeben
■ betr.: „Die Linke und der Staat“, taz v. 13/14. 6. 98
Sehr geehrte Frau Tönnies, gleich zur Sache: Sie identifizieren Staatsfurcht und Zentralisierungsunwilligkeit mit Nazis und Marxismus – also mit etwas für Sie selbst Verwerflichem. Da auch ich im Sinne von 1989 etwas zentralisierungsunwillig und genervt von mittlerweile auch westlicher Staatsloyalität bin, möchte ich sofort antworten.
Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem der deutsche Bürger auf seinen Staat vertrauend dahinstarb, verbreitete sich – was Wunder – eine allgemeine Zentralisierungsunwilligkeit. Sie fand ihren Höhepunkt in der Revolution von 1918, welche von rechten SPD-Kreisen blutig niedergeschlagen wurde, aus Angst vor – ja, wovor eigentlich? Die im Ergebnis des Aufstands gegründeten Räte wollten mitnichten die Abschaffung des Staates oder gar den Sozialismus. Ziel war lediglich Frieden und die Abschaffung der Militärbürokratie. Eine konkrete Forderung lautete z.B.: Abschaffung der penetranten Grußpflicht und Rangabzeichen in der Armee. Der ach so demokratischen SPD verdanken wir, daß diese Forderung heute noch nicht erfüllt wurde. Vielmehr ist der Genosse Noske als Retter und Reorganisator der alten Militärbürokratie in die deutsche Geschichte eingegangen. Tagesordnung war die Rettung des Staates vor dem basisdemokratischen Mob, Frau Tönnies! Noske gründete die Reichswehr als rechtsextremes Freiwilligenheer. Diese Organisation war es, welche maßgeblich die von SPD-Regierungen geduldete Vorbereitung und Durchführung des Zweiten Weltkrieges zu verantworten hat. (Sogar in der zahmen Zeit, Nr.11/97, S.15 gefunden) Seit ihrer Niederschlagung versuchen verschiedene Kreise, voran die SPD, die demokratische Bewegung von 1918 als linksradikal zu diffamieren oder zu ignorieren, man sehe sich Materialien zum Geschichtsunterricht an. Sie, Frau Tönnies, identifizieren den antiautoritären Willen von Deutschen nach 1918 nun sogar mit der Naziideologie und spannen mal schnell den Bogen zum Marxismus, einer wissenschaftlichen Methode (wie kann eine solche nicht totalitär sein?). Sie beachten nicht, daß die Nazis unterdrückte Befreiungsideen nicht propagiert, wohl aber geschickt und populistisch in ihre Bahnen zu lenken wußten: von oben nach unten weitertreten. Weiterhin scheinen Sie der illusionären Vorstellung vom unbestechlichen, echten „Rechtsstaat“ nachzuhängen, den es nie gab. Es gehört schon eine Portion Naivität dazu, in eine auf Mangel und Privateigentum basierende Wirtschaft eine unbestechliche Bürokratie zu postulieren. Wie weit diese Naivität oder Verschleierung von Tatsachen durch die Presse führt, zeigen jüngste Skandälchen um den Castor-Transport. Es wäre an der Zeit, den Staat nicht immer mit den eigenen Eltern zu verwechseln. Die parlamentarische Demokratie war und ist ein Zugeständnis der Wirtschaftsbosse an den Mob und nur relativ beständig! Karsten Schlenker, Berlin
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