Esenshamm sitzt im goldnenen Atom-Käfig

■ Aber nach dem schweren AKW-Zwischenfall rumort es in der Gemeinde Stadland

Lever dod als Sklav“ – „lieber Tot als Sklave“ steht auf dem Denkmal, das zwischen Rodenkirchen und dem vier Kilometer entfernten Atomkraftwerk Unterweser an die Friesenschlacht erinnert. Hier wurde dem Freiheitstraum der Friesen damals, 1514, durch Oldenburgische Truppen endgültig der Garaus gemacht.

„Lever dod als Sklav“ – hier, in Rodenkirchen, 4.325 Einwohner, Gemeinde Stadland, Regierungsbezirk Weser-Ems, ist man längst versklavt. Die Stadt ist im goldenen Würgegriff des Atomkraftwerks Unterweser, das erst vor zwei Wochen den größten Atom-Störfall seit zehn Jahren in Deutschland produzierte.

„Die Gemeinde ist auf Gedeih und Verderb auf das Atomkraftwerk angewiesen“, sagt SPD-Bürgermeister Horst Steenken. 20 Millionen Mark schwer ist der Gemeindehaushalt pro Jahr. Das Atomkraftwerk alleine zahlt zwischen 10 und 15 Millionen Mark Gewerbesteuer. Handwerks- und Zulieferbetriebe profitieren von dem Kraftwerk, rund 60 Prozent der knapp 400 AKW-Mitarbeiter leben in der Gemeinde. Die Arbeitslosigkeit, sie liegt bei 13,5 Prozent – in der Gegend nördlich von Oldenburg ist das nicht schlecht. Ob der Weser-Tunnel, Niedersachsens größtes Verkehrsprojekt, der hier ab 2002 die Halbinsel mit Bremerhaven verbinden soll, einen Aufschwung bringen wird, steht in den Sternen.

Das Protestpotential gegen das AKW, das weiß auch die einzige Grüne im Gemeinderat, wird durch die Abhängigkeit korrumpiert. „Die Leute wissen, daß es keine ökonomische Alternative gibt“ sagt Elisabeth Josch-Kunze und blickt von der Cafe-Bank auf den adretten Vorplatz des Bahnhofes, wo gerade die Marktstände abgebaut werden. Das Rathaus gegenüber ist noch nicht alt. Und auch die Markthalle auf der anderen Seite, größter Veranstaltungsort weit und breit, wurde, nachdem abgebrannt, mit Atom-Geldern wieder aufgebaut. Die Freiwillige Feuerwehr nebenan hat im typischen modernen Backsteinbau ein eindrucksvolles Arsenal an Feuerspritzen.

Die Beschaulichkeit war vorgestern gestört. Vor der Markthalle haben sich Greenpeace-Aktivisten aufgebaut, um gegen die Atompolitik zu demonstrieren. Ein schneeweißer Mercedes fährt vor: die PreussenElektra-VertreterInnen laufen Spalier. Der Gemeinderat läd zur öffentlichen Anhörung, Thema: Störfall und kontaminierte Transporte. Alle Honoratioren der Gegend sind gekommen, auch aus Hannover sind Experten da.

Eine öffentliche Anhörung zum Thema Atom, das hat es hier seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gegeben: Im Dezember 1987 waren Fässer aus der belgischen Wiederaufbereitungsanlage Mol in Esenshamm aufgetaucht. Die teilweise aufgeblähten Fässer standen unter Plutonium-Verdacht. Die Lagerstätte jedoch war nur für schwachradioaktives Material gedacht.

Damals war die Stimmung aufgeheizter als an diesem Tag, erinnert sich Helga Rinsky, Anti-Atom-Aktivistin aus Bremen. Mit ein paar Gleichgesinnten ist sie auch diesmal gekommen, um nicht wortlos zu bleiben. Im hinteren Teil der Halle sitzen Arbeiter aus dem Kraftwerk. Das mit dem Störfall? „Tja, das ist halt passiert“, traut sich einer nach vorne. Die Transporte? „Das haben die verpennt, das zu melden, das ist wohl wahr.“

Die Gemeinde hat Kaffee und Kuchen für 400 Menschen aufgeboten. Gekommen sind um die 250. Die AKW-Vertreter lassen kein Stereotyp unerfüllt. Als erstes legt Betriebsrat Klaus-Dieter Raschke ein Foto seiner Kinderchen auf den Overhead – zum Beweis für die allgemeine Betroffenheit. Die Eigenstrahlung des Menschen sei fast höher als die Grenzwerte, erzählt er weiter mit den Folien und der Rhetorik aus den 80ern.

Die Elektra-Pressesprecherin redet von „radiologischer Unbedeutsamkeit“ der Grenzwert-Überschreitungen. „Wofür gibt es dann eigentlich Grenzwerte“ will ein Zuhörer darauf wissen. Ein anderer wirft den Betreibern psychologische Unsensibilität vor.

„Die Betreiber haben Vertrauen verspielt“ bringt es dann der Vertreter des Umwelt-Ministeriums auf den Punkt, und auch die zwiegespaltenen Lokalpolitiker und Umweltschützer lassen ihren Dampf ab. „Öffentlichkeits-technisch war das eigentlich der Super-Gau für die Betreiber“, findet Greenpeacler Jörn Behrens nach vier Stunden Hearing. Podium, Publikum und Pressemeute verlassen die Halle. Die Dorfkapelle packt die Trompeten für die Probe aus. Und dann, dann kehrt wieder diese trügerische Ruhe ein in Rodenkirchen.

Christoph Dowe