: Alt und Jung für andere Politik
Betagte PDS-Anhänger gehen zusammen mit West-Gewerkschaftern und Jugendlichen auf die Straße, um „Kohl und Kanther zu feuern“. NPD-Gegendemo am Stadtrand ■ Aus Berlin Jeannette Goddar
Ihre letzten Worte gingen im Applaus unter: „Zurück zur Demokratie! Zurück! Jetzt oder...!“ Die Schauspielerin Käthe Reichel sprach den Zehntausenden, die sich am Samstag nachmittag auf den Alexanderplatz begeben hatten, aus der Seele. Als sie von der herrschenden „Oligarchie“ sprach, tobte die Menge fast. „Richtig“ schallte es von allen Seiten und „jawoll“. Hunderte schwangen ihre meist roten Fahnen, die sie seit Stunden ebenso stoisch wie tapfer in den Wind hielten, um bei strahlendem Sonnenschein vor allem für eins zu demonstrieren: Daß endlich wieder mal was passiert.
Bei weitem nicht nur Berliner folgten dem Demonstrationsaufruf „Aufstehen für eine andere Politik!“ eines Bündnisses von Arbeitslosen, Studenten, Gewerkschaftern, der PDS und der „Erfurter Erklärung“. In mehr als 200 Bussen waren sie aus ganz Deutschland angereist – von den mit einer Tüte Gummibärchen bewaffneten Nürnberger „Falken“ bis hin zu einer Gruppe Jenaer Rentner. Türkische Gewerkschafter waren erschienen, ein paar der wenigen verbliebenen DKPisten und KPDler, Gruppen Erwerbsloser und auch ein paar Schüler und Studenten. So bunt wie die Mischung waren die Parolen, die sie auf T-Shirts und Transparenten trugen: „Kohl und Kanther feuern – Millionäre besteuern“, hieß es da. Oder: „Weg mit dem Rentenstrafrecht!“
Was sie einte und die Demonstration in ihrer für viele unerwarteten Größe (bis zu 40.000 Menschen waren auf der Straße) bemerkenswert machte, war der erklärte Wille, der herrschenden Politik außerparlamentarisch etwas entgegenzusetzen: für mehr Arbeitsplätze, soziale Gerechtigkeit und ein menschlicheres Miteinander. „Uns genügt nicht der Wechsel von Köpfen, wir brauchen einen Wechsel von Konzepten“, sagte der Pfarrer Friedrich Schorlemmer. IG-Metall-Vorstandsmitglied Horst Schmitthenner forderte den SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder auf, keinesfalls eine große Koalition einzugehen. Deutschland brauche einen breiten Zusammenschluß links von der Mitte, auch weil „der Rassismus in dieser Gesellschaft fast schon wieder hoffähig“ sei.
In das neugewonnene Bündnis werden enorme Hoffnungen gesetzt. „Ich hoffe, daß eines Tages Politiker einhalten, was sie versprechen“, erklärte eine 15jährige aus Nürnberger. Ein Naumburger Rentner scheute den Vergleich mit dem „Dritten Reich“ nicht. „Bei den Nürnberger Prozessen haben wir ja gesehen, wo die Kriegsgewinne hingegangen sind. Damals haben wir gesagt: ,Nie wieder!‘“ Und seine Altersgenossin aus Berlin schimpfte schon mal präventiv über die Medien: „Heute abend im Fernsehen zeigen sie dann wieder einen halbleeren Platz. Das ist doch alles Propaganda!“
Unter den Berliner Besuchern waren viele Rentner mit PDS- Flagge. Eine Mittfünfzigerin wunderte das wenig. „Tja“, sagte sie nicht ohne Stolz, „die alten Genossen...“ Daß nur wenige Westberliner erschienen waren, erklärte sie sich so: „Die wurden ja schon immer in Watte gepackt.“
Bis Sonnabend vormittag hatte man damit rechnen müssen, daß zeitgleich mit die rechtsextreme NPD durch Berlins Mitte marschieren werde. Diverse Gruppen hatten zu Gegendemonstrationen aufgerufen. Auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor fand eine „Lesung gegen Rechts“ statt.
Die NPD marschierte tatsächlich – im Ostberliner Plattenbaubezirk Hohenschönhausen. Beschützt von einem massiven Polizeiaufgebot demonstrierten 300 überwiegend jugendliche Rechtsextreme fernab vom Stadtzentrum. Unter Schlachtrufen wie „Hier marschiert der nationale Widerstand“ und „Arbeit zuerst für Deutsche!“ liefen sie unbehelligt durch die Straßen. Wegen des von der Polizei geheimgehaltenen Ortes mußten Gegendemonstrationen ausfallen. Die Antifas hielten sich zum Zeitpunkt der Demonstration auf der Suche nach den Rechten exakt am anderen Ende der Stadt in Spandau auf. Sie kamen Stunden zu spät.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen