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Mein Blutfreitag Von Reinhard Krause

Neulich nutzte ich die Mittagspause für einen Abstecher nach Grunewald, wo ich in einem piekfeinen Auktionshaus an einer Vorbesichtigung teilnahm. Vor allem auf die Konvolute mit dekorativer Graphik hatte ich es abgesehen: Im Durcheinander der Mappen kann man absonderliche Darstellungen entdecken. Diesmal fand ich einen Kupferstich mit einer höfischen Szene: eine Hofdame und ihr Leibarzt beim Aderlaß. In hohem Bogen plätschert eine Blutfontäne aus dem Arm der Dame in ein eilfertig hingehaltenes Becken.

Daß Blut ein besonders beeindruckender Saft ist, habe ich schon in jungen Jahren feststellen müssen. Ich war fünf, da entdeckte mein Bruder im Nachttisch unserer Großmutter ein religiöses Erbauungsbuch. Im letzten Teil dieses Bandes gab es eine überaus realistische Abbildung von „Jesus mit der Dornenkrone“: Dick floß dem geschundenen Heiland das Blut über Stirn und Wangen. Ein Blick in menschliche und religiöse Abgründe. Doch immer wenn uns Kinder der Übermut packte, schlichen wir uns in Omas Schlafzimmer, suchten mit klammen Fingern die grausige Seite – und rannten stöhnend und schreiend wieder weg, kaum daß wir einen Blick auf den Blutenden erhascht hatten.

Geblieben ist mir bis heute eine dunkle Faszination: „Blut“ – wie das schon klingt! Manchmal allerdings bringt mich dieses widerspruchsvolle Faible auch in heikle Situationen. Vor geraumer Zeit etwa erzählte mir ein Bekannter, sein Vater habe sterbend einen Blutsturz gehabt. „Ich weiß, das paßt jetzt vielleicht nicht“, hörte ich mich zu meinem eigenen Entsetzen sagen, „aber was hat man sich eigentlich genau unter einem Blutsturz vorzustellen?“ O je, hätte ich nicht gefragt! Die schrecklichen Einzelheiten sprudelten nur so aus ihm heraus. Zum Glück stellte sich bei mir augenblicklich ein Ohrensausen wie aus tausend Himmelsposaunen ein. Aufs Zuhören hätte ich mich gar nicht mehr konzentrieren können. Jetzt ging es nur noch darum, nicht umzukippen.

In solche Erinnerungen vertieft, ging ich zurück zur S-Bahn. Nein, rief ich mich zur Besinnung, auf den drolligen Kupferstich wirst du nicht bieten, basta! Kaum saß ich in der Bahn, stürmte eine Kohorte pubertierender Mädchen das Abteil. Ich war umzingelt. Schnatterschnatterschnatter. Eins der Mädchen hatte mich schon beim Einsteigen angestarrrt. Bruchteile einer Sekunde sah ich Spottlust in ihren Augen aufblitzen. „Halt bloß die Klappe, du blöder Backfisch!“, sagte ich natürlich nicht. Wohl aber mein Blick. Und sie hielt die Klappe. Es wurde noch eine nette Fahrt. Die Mädchen waren allesamt Niederländerinnen auf Klassenfahrt und unterhielten sich unentwegt in ihrer leckeren Sprache. Fast war es schade, daß ich irgendwann aussteigen mußte.

Ein bißchen spät war es jetzt geworden, schnell an die Arbeit! Aber vorher noch rasch auf die Toilette. Da sah ich es im Spiegel: Ich mußte vor geraumer Zeit an meine kleine Rasierwunde vom Morgen gekommen sein. Eine lange dunkelrote Kruste zog sich vom unteren Lippenrand bis unters Kinn. Ich sah besser aus als Christopher Lee in „Dracula jagt Minimädchen“. Gott, wie peinlich! schoß mir durch den Kopf. Und dann: Puh, sind die abgebrüht, die kleinen Holländerinnen. Und erst die Damen vom Auktionshaus!

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