: Tagebuch eines AIDS-Infizierten
18. März – Heute früh aufgewacht, Nacken verspannt, sofort an Gehirnhautentzündung gedacht! Nackenmassage von C. brachte Beruhigung. Viel gegrübelt!
20. März – Über das Universum nachgedacht. Glaube an Rettung durch Außerirdische. Sollte weniger SF-Filme sehen.
21. März – Festgestellt, daß ich den Rest meines Lebens sterben werde, schonmal solche Gedanken gehabt, in einer Adoleszenzkrise, scheint jetzt realer. Viel Gegrübelt!
23. März – Guter Freund macht mich zur Sau, weil ich keine Medikamente gegen HIV nehme ... eingeschüchtert zum Joint gegriffen. Oh Oh viel Grübelei.
24. März – F. Nietzsche hat etwas übersehen, als er sagte, daß die Menschen Werte und Normen brauchen, um die Komödie des Lebens in die Länge zu ziehen. Ich habe festgestellt, daß viele Menschen eine Tragödie in die Länge ziehen und mich köstlich über jene amüsiert. Sehr gespaltenes Gefühl bis nach Mitternacht.
25. März – Politische Geschehnisse im TV verfolgt. Viel gegrübelt.
27. März – Husten, frieren und kleine weiße Flecken im Mund entdeckt. Zunächst wieder Hoffnung auf Rettung durch Außerirdische, dann doch zum Arzt gegangen. 20 Minuten starkes Grübeln, dann abflauend, erst abends konzentriert.
29. März – Heute ganz dramatisch! Freunde eingeladen, um meine Endpflege zeitlich und organisatorisch zu koordinieren. Gefühl von Sicherheit erlangt.
2. April – Das Wort Maulbrennen fest in mein Vokabular aufgenommen. Dafür aber keine Nahrung aufgenommen. Brennen im Mund.
7. April – Schuldgefühle gegenüber der Mutter wegen Selbstmordgedanken. 40 Zigaretten geraucht als Strafe.
8. April – Begonnen, öffentliche Hilfsangebote zu checken. Mehrmals den Satz wiederholt: Ich will in jeder Hinsicht und im weitesten Ausmaß begünstigt werden. Angst Vergünstigungsjäger zu werden.
9. April – Wegen Maulbrennen zum Arzt, konnte mir nicht helfen. Diagnose: Alte Leute leiden an sowas. Fühlte mich sehr alt, schlief dann aber wie ein junger Gott.
12. April – Angstzustände wegen Lügen beim Arzt. Hab' mich kränker dargestellt als ich war. Viel gegrübelt. Vergünstigungsjäger???
13. April – Vom Maulbrennen nachts aufgewacht, unglücklich darüber. Bißchen geweint.
14. April – Komisches Gefühl wegen der Krankenkasse, was die alles bezahlen muß, dann aber Freude über den Gesundheitsminister, der sich darum kümmert.
15. April – Schild über das Bett gehängt, drauf steht SOZIALFALL !
17. April – Neue Blutwerte vom Arzt abgeholt. Abreißkalender gekauft und überlegt wer länger durchhält, der Kalender oder ich.
19. April – Auf einer Wiese gelegen und geträumt, irgendwann von einer Mücke gestochen worden und gedacht: auch das noch!
20. April – Mutter angerufen und gefragt, ob ich bei ihr zu Hause sterben darf. Hat ja gesagt. Leicht beruhigtes Grübeln.
25. April – Heute mit der Stichsäge meiner Zimmerpflanze (große Juccapalme) die Wurzeln abgesägt. Brauchte dringend lebendes Vergleichsobjekt.
26. April – Gute Lebensqualität. Curry-Wurst gegessen ohne Maulbrennen, jedoch viel gegrübelt über das Für und Wider des Seins.
28. April –Geburtstag gefeiert, viele Geschenke erhalten, macht mich auch nicht unsterblich.
29. April –Schild über dem Bett (Sozialfall) wieder abgehängt, einen Clown hingehängt. Geschmunzelt.
2. Mai – Starke Schmerzen in der Lunge von M. abklopfen lassen, Schild Sozialfall wieder hingehängt, Juccapalme läßt erste Blätter hängen.
4. Mai –Schwächezustand steigert sich, weiße Beläge im Mund lachen mich aus, der Abreiß-Kalender wittert seine Chance, die Juccapalme ist zur Hälfte gelb geworden, die Gegenstände in meinem Zimmer tanzen herum. Bißchen grübeln, bißchen geweint.
7. Mai – Mit letzter Kraft im Blumentopf gegraben, JUBEL, neue Wurzeln bilden sich. Genugtuung verspürt.
9. Mai – Geld beantragt für einen Urlaub. Angst Vergünstigungsjäger zu sein, gegrübelt.
10. Mai – Ich bin ein Vergünstigungsjäger.
14. Mai – Im Fernsehen eine Sendung gesehen. Benefiz-Gala zugunsten eines AIDS-Sterbe-Hospiz. Kranke wurden vorgeführt. Fühle mich schlecht.
15. Mai – Mit der AIDS-Hilfe telefoniert. Wußten auch nichts neues, wieder das Gefühl, den Rest meines Lebens sterbe ich.
17. Mai – Die Freude über den Frühling fällt in diesem Jahr sehr knapp aus, muß mit was anderem kompensiert werden. Aber womit nur?
18. Mai –Den ganzen Tag überlegt, wo ich sterben soll, wem ich es zumuten kann, wo ich begraben werde, und ob ein Hahn danach kräht.
20. Mai – Geld für den Urlaub ist bewilligt worden. Fühle mich bedürftig. BEDÜRFTIG!!!!
22. Mai – Urlaubsplanung mit A. Ich war schon überall auf der Welt. Jetzt in kranken Tagen verlasse ich nicht mehr das deutschsprachige Gebiet. 10 Tage Mallorca.
24. Mai – Keine Freude über den Frühling, keine Freude auf den Urlaub, viel im Bett.
25. Mai – Mutter angerufen und ihr gesagt, daß ich noch lange leben werde, dennoch heimlich entschieden wo ich begraben werden will.
26. Mai – Auf nach Mallorca!
5. Juni – Der Urlaub war eine einzige Horrorshow, 6 Tage krank im Hotelbett.
6. Juni – Gefühle eines Erdbebens haben sich in meinen Körper verirrt. Übers Branchenbuch einen seismologischen Parapsychologen gesucht. Gab's nicht.
7. Juni – Heute 40 Zigaretten geraucht. Lungenkrämpfe.
8. Juni – Heute meinen Job gekündigt, theatralischer Auftritt, viel mit den Schuldgefühlen der Kollegen gespielt. Die Reaktionen waren so bunt wie das Leben.
9. Juni – Völlig unglücklich über meine Entscheidung, mir ist bitterkalt.
19. Juni – Zwei Kilo abgenommen.
20. Juni – Ich muß unbedingt verrückt werden, bevor ich krank werde.
24. Juni – Ich bin niemals in der Lage, einen Menschen wirklich zu lieben, außer Franz Kafka.
25. Juni – Den ganzen Tag überlegt, ob ich verrückt oder verbittert werden soll.
26. Juni – Ich muß verrückt werden bevor ich krank werde!
28. Juni – Heute ein längeres Gespräch mit einem Gebüsch geführt, Gebüsche sind ja ab einer bestimmten Größe sehr gefährlich.
3. Juli – Heute habe ich erstmals nicht nur mit meiner Katze gesprochen, sondern auch mit ihrem Futter.
anonym
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