Die Bonner und die Grundschule

Der Zuzug von Beamtenkindern läßt den alten Streit um die Dauer der Grundschule wieder aufbrechen. Die SPD hätte gerne eine längere, die CDU eine kürzere Grundschulzeit  ■ Von Ralph Bollmann

Eigentlich geht es nur um 100 Schüler. So viele Kinder von Bundesbediensteten, die von Bonn nach Berlin umziehen, werden nach den Sommerferien in die 5. oder 6. Klasse einer Berliner Schule gehen. Das Problem: In Bonn gehen die Fünft- und Sechstkläßler bereits auf eine weiterführende Schule, die Kinder statusbewußter Beamter also in der Regel aufs Gymnasium. In Berlin hingegen müßten sie, ginge es mit rechten Dingen zu, eine Grundschule besuchen.

Denn in Berlin haben die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt, woran Schulreformer in anderen Bundesländern gescheitert sind – sie verlängerten die Grundschulzeit um zwei Jahre.

Mühsam war die vierjährige gemeinsame Schulzeit für Kinder aus allen sozialen Schichten im Jahr 1920 den konservativen Kräften abgerungen worden, die vom gegliederten Schulsystem der wilhelminischen Klassengesellschaft so viel wie möglich retten wollten.

Seither ist eine Reihe von Zwischenformen entstanden. In Bremen und Niedersachsen besuchen alle Schüler der 5. und 6. Klasse eine gemeinsame Orientierungsstufe. In den meisten anderen Bundesländern besuchen die Schüler in dieser Phase schon Gymnasium, Real- oder Hauptschule, können aber noch zwischen den Schulformen wechseln. Einzig Bayern und Baden-Württemberg halten kompromißlos an der vierjährigen Grundschule ohne anschließende Orientierungsstufe fest. Brandenburg hingegen hat nach 1990 das Berliner System der sechsklassigen Grundschule übernommen.

Ausnahmen von diesem Prinzip hat es in Berlin aber von Anfang an gegeben: Schon bei der Einführung der verlängerten Grundschulzeit durften die altsprachlichen Gymnasien ihre unteren beiden Klassen behalten. Echte humanistische Bildung, so glaubte man offenbar, sei in einer siebenjährigen Schnellbleiche nicht mehr zu erwerben.

Nach der Wende kamen die Ostberliner Sport- und Musikoberschulen hinzu. Ingrid Stahmers Vorgänger, CDU-Schulsenator Jürgen Klemann, führte an sechs Gymnasien „Schnelläuferklassen“ ein, die von der 5. bis zur 12. Klasse ein Jahr früher zum Abitur führten als herkömmliche Klassen.

An 16 der 116 Berliner Gymnasien können sich Berlins Schüler schon in der 5. Klasse von Studienräten statt von Grundschullehrern unterrichten lassen – an „grundständigen“ Gymnasien, wie die Schulexperten sagen.

Sollen die 100 Bonner Beamtenkinder im kommenden Schuljahr das Heer der 200.000 Berliner Grundschüler vergrößern oder aber der Schar der 80.000 Gymnasiasten Zulauf bescheren?

Über diese Frage haben sich die Koalitionspartner CDU und SPD heftig zerstritten. Noch zu Beginn der vergangenen Woche war die SPD-Senatorin Stahmer fest entschlossen, die Zahl der „grundständigen“ Gymnasien schon im August um sieben wachsen zu lassen.

Aufgeschreckt durch Alarmrufe der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), beschloß die SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus umgehend, „daß es von Seiten der Senatsverwaltung keine Zulassung von weiteren Zügen für grundständige Gymnasien geben soll“. Notgedrungen trat die Senatorin den Rückzug an, um sich der „Konfliktlage“ anzupassen. „Wenn es sie nicht gäbe, müßte man sie erfinden“, pries sie die Vorzüge der sechsklassigen Grundschule wieder in den höchsten Tönen.

Wenig erfreut zeigte sich der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) über diese Volte. Nicht anders als die gegeißelten „Ideologen“ aus dem sozialdemokratischen Lager erklärte die CDU den Schulstreit kurzerhand zur Prinzipienfrage. Für den kommenden Dienstag hat Diepgen das Thema auf die Tagesordnung des Senats gesetzt. Er präsentiert sich als Anwalt jener Eltern, die ihre Kinder gerne schon in der fünften Klasse auf dem Gymnasium sähen.

Würden erstmals an ganz gewöhnlichen Gymnasien 5. und 6. Klassen eingeführt, fürchtet die Gewerkschaft indes einen Dominoeffekt. Wenn immer mehr Schüler vorzeitig aufs Gymnasium abwanderten, glaubt der GEW-Landesvorsitzende Erhard Laube, dann würden die Grundschulen zu „Restschulen“ für angehende Grund- und Hauptschüler „degradiert“. Deren Eltern, so kontert die bündnisgrüne Schulexpertin Sybille Volkholz Diepgens Argument des Elternwillens, hätten sich diese Entwicklung gewiß nicht ausgesucht.

Je länger die Debatte andauert, um so unwahrscheinlicher wird eine Neuregelung schon zum kommenden Schuljahr. Zumindest der Landeselterausschuß müßte zuvor noch gehört, unter Umständen sogar das Schulgesetz geändert wirden. Die 100 Bonner sollen unterdessen in jenen 16 „grundständigen“ Gymnasien unterkommen, die es bereits gibt. Doch um sie geht es in Wahrheit längst nicht mehr.