■ Kosten-Nutzen-Rechnung der Schilddrüsenüberfunktion
: Schlaflos in Petropolis

Anders als die Migräne oder die chronische Nasennebenhöhlenentzündung gehört die Schilddrüsenüberfunktion zu jenen wenigen Krankheiten, die sich die meisten Menschen mit Wonne an den Hals zu wünschen pflegen. Die Ursache für dieses absonderliche Begehren liegt darin, daß der Hyperthyreotiker sich Tag für Tag mit den kalorienreichsten Leckereien vollstopfen kann, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen.

Stets erblicke ich ein unverhohlenes Sehnen in den Augen meiner Tischgenossen, wenn ich mir beim Italiener einen Familienteller Saltimbocca bringen lasse und zur Entschuldigung für meine Maßlosigkeit darauf verweise, daß meine überkandidelte Drüse mich binnen weniger Tage wie ein implantierter Piranha bis auf die Knochen abnagen würde, wenn ich sie nicht ständig mitfütterte. „Ist so was ansteckend?“ fragt man mich, und obwohl ich das entschieden verneine, trinkt jeder meiner Begleiter im Laufe des Abends mindestens einmal versehentlich aus meinem Glas.

Doch diese Toren hören ja auch nie zu, wenn man ihnen von den unersprießlichen Effekten der Fehlfunktion berichtet! Man fühlt sich nämlich ständig wie ein frisch aufgetankter Zitteraal. Will ich mal länger als zehn Minuten ruhig am Schreibtisch sitzen, muß ich mir den Hosenboden schon auf dem Stuhl festtackern. Besonders störend allerdings wird die Angelegenheit, wenn ich mich nach vollbrachtem Tagwerk in meine Daunendecke rolle, ohne vorab eine schlaffördernde Substanz eingenommen zu haben. Denn wegen der hormonellen Überversorgung hüpft mir das Herz auch tief in der Nacht noch wie ein tatendurstiges Riesenkaninchen im Körper herum, so daß ich durchaus den Eindruck habe, bei jedem Schlag einen halben Meter von der Matratze hochzufliegen.

Nicht gerade einfacher wird meine Lage dadurch, daß unten auf der Straße immer wieder ein paar Krawallheimer vorüberziehen, die mit leeren Colabüchsen das Kurzpaßspiel trainieren oder einen Evergreen aus dem Kampftrinker-Gesangbuch anstimmen. Oh, ihr Halunken! Schande über euch! Ihr ahnt ja nicht, wie viele abscheuliche Tode ich euch schon habe sterben lassen, wie oft ich euch zur Abschreckung anderer Radaubrüder an die nächstbeste Straßenlaterne knüpfte!

Vor einer realen Attacke wider die Krachmacherei aber habe ich bis heute abgesehen, und das liegt nicht nur daran, daß mir wohl auch der verständnisvollste Richter kein Recht auf Notwehr zubilligen würde. Ich muß vielmehr einräumen, daß die übelste Lärmterroristin stets neben mir im Bett liegt. Eindrucksvoll beweist sie mir, daß auch kleine Menschen trotz des fehlenden Resonanzkörpers mit der akustischen Wucht eines Walroßkönigs zu schnarchen vermögen. Beim Zähneknirschen macht sie dieselben Geräusche wie ein Schiffsrumpf, der vom Packeis zerknackt wird, und wenn die Traumfabrik in ihrem Schädel schließlich mit der Spätvorstellung beginnt, dann schreckt sie nicht davor zurück, die wichtigsten Dialogsätze ihrer Rolle laut vorzutragen.

Auf diese Weise gewinne ich zwar manchen aufschlußreichen Einblick in ihr Seelenleben – an Schlaf aber ist bis zum frühen Morgen nicht zu denken. Sie werden deshalb verstehen, daß meine Leidensgenossen und ich uns eigentlich jeden Abend zur Vorbereitung der Nachtruhe ein tüchtiges Quantum Bier einflößen. Schade ist natürlich, daß auch die Pathologie keinen Notwehrparagraphen kennt und wir infolge krankhaft geschrumpfter Lebern vermutlich frühzeitig ins Nirwana einbestellt werden. Andererseits wird uns in unserer letzten Ruhestätte auch das Riesenkaninchen nicht mehr stören. Und das ist ja dann irgendwie doch ein Trost. Joachim Schulz