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■ Weder das Land noch die linksliberale Öffentlichkeit können es sich leisten, das grüne Talent zu verschleudern. Gebt ihm eine Chance!Das Wunderkind und seine Kritiker

Bis vor wenigen Monaten galten die Grünen als das Wunderkind der deutschen Politik. Sie schafften innerhalb weniger Jahre den Wandel von einer ökologisch inspirierten und heterogenen Protestbewegung zu einer politischen Kraft, die in den unterschiedlichsten Feldern nicht nur kluge Fragen, sondern auch überzeugende Antworten formulierte.

Ob ökologisch-soziale Marktwirtschaft, nachhaltige Finanzpolitik, BürgerInnenrechte, soziale Sensibilität oder ein zeitgemäßes Staatsverständnis jenseits von Nachtwächter und Übervater – all dies schien bei den Grünen nicht nur gut aufgehoben, sondern auch bemerkenswert gut durchdacht. Eine Partei, die sich von Illusionen verabschiedet, ideologischen Ballast über Bord wirft und dafür attraktive und realistische Visionen bietet – welch ein bestechender Kontrast zur politischen Konkurrenz: einer zur populistischen Beliebigkeit reduzierten Schröder- SPD; einer restlos verbrauchten CDU/CSU, die selbst nach Aussage ihres Fraktionsvorsitzenden nur durch die gemeinsame Machtperspektive zusammengehalten wird; und nicht zuletzt einer FDP, die „von der Bürgerrechtspartei zur rechten Bürgerpartei“ (Rezzo Schlauch) mutiert ist.

Der Vergleich mit einem Wunderkind trägt aber auch jetzt, wo die Grünen scheinbar am Abgrund stehen. Nach außen glanzvolle Wunderkinder sind trotz ihrer Fähigkeiten innerlich oft verunsichert. Das kommt zum Vorschein, wenn ihnen bewußt wird, daß aus spielerischem Vergnügen Ernst geworden ist, oder wenn unerwartete Hindernisse auftauchen. Analog wurden die Grünen vor dem Ernst einer möglichen Regierungsübernahme plötzlich nervös und unsicher. Einerseits übervorsichtig und an tatsächlichen Stärken zweifelnd, andererseits uneinsichtig gegenüber Fehlern und grob fahrlässig dabei, beste Positionen gleich reihenweise zu verspielen. So überforderte die plakative Fünf- Mark-Parole das fachlich unvorbereitete Publikum, und die klugen Inhalte wurden komplett überlagert. Und Trittins historischer Fehltritt beim öffentlichen Gelöbnis verwandelte in ein Eigentor, was als Steilvorlage in Form einer protzigen und teuren Selbstdarstellung des Verteidigungsministers hereinkam.

Es überrascht nicht, daß die Neider des grünen Wunderkinds in der jetzigen Lage unbarmherzig nachzutreten versuchen. Dabei werden auch zahlreiche echte Schwächen offenbar, die dem Wunderkind lange nachgesehen wurden: auf Scheingewißheiten basierende Widersprüche wie in der Außenpolitik und nicht zuletzt ein in Teilen der Partei gepflegtes Politikverständnis, das davon ausgeht, daß Menschen „zu ihrem Besten“ bevormundet werden müssen.

Die eigene Wichtigkeit leitet sich dabei aus der Pose des moralisch unantastbaren Besserwissers ab. In pädagogisch-fundamentalistischer Logik wird die sanktionierende Geste wichtiger als das politische Ziel, das Mittel wichtiger als der Zweck: die fünf Mark wichtiger als die ökologische Steuerreform, Tempo 100 wichtiger als das umfassende Ziel einer ökologischeren Mobilität, das flügelübergreifende (!) öffentliche Schulmeistern wichtiger als die eigenen Wahlchancen. Bei grün-nahen WählerInnen kommt das schlecht: Sie wollen nicht bedroht oder erzogen werden, sondern überzeugende Argumente hören. Ein niedriges Niveau schadet den Hintzes und Westerwelles nicht unbedingt. Den Grünen schadet es garantiert, wenn sie die Intelligenz ihrer potentiellen WählerInnen beleidigen.

Pädagogisch-fundamentalistisches Gehabe korrespondiert auffällig mit der Haltung vieler Linksliberaler und Alt-68er zu den Grünen: Die Grünen müssen perfekt sein – oder mensch will sie gar nicht mehr. Fehlbarkeit verträgt sich nicht mit dem angeknacksten Selbstbewußtsein jener 68er, deren Allmachtphantasien und Machbarkeitswahn nicht erst 1989 zusammengebrochen sind. Ihr nie eingestandenes Versagen wird überkompensiert durch den Anspruch, immer auf der „richtigen Seite zu stehen“. Die so erzeugte Schizophrenie verleiht der nahezu masochistischen Treue vieler Intellektueller zur SPD fast schon eine gewisse Logik. Sie werden zur schmückenden Kulisse eines Kandidaten, der die Parole „Mehr Demokratie wagen“ forsch durch „mehr Volkswagen“ ersetzt.

Sicher haben die Grünen tausend Fehler: Sie sind überwiegend eine Ein-Generations-Partei. Wie in den anderen Parteien haben sich auch bei ihnen Seilschaften gebildet, deren Ehrenkodex an die Cosa Nostra erinnert: Verwerflich ist schon das Faktum von Kritik an den „eigenen Leuten“, ungeachtet jeder inhaltlichen Begründung.

Eine illusionslose Betrachtung darf aber über eines nicht hinwegtäuschen: Nur mit den Grünen hat eine zivile und bürgerInnenrechtliche Politik in diesem Land überhaupt eine Chance. Nur mit ihnen gibt es eine ökologisch-soziale Reformpolitik, den ernst zu nehmenden Einstieg ins Solarzeitalter und eine Sozialpolitik jenseits von Bevormundung und sozialer Kälte.

Die Bündnisgrünen haben in den letzten Monaten viel dazugelernt. Dies zeigt nicht zuletzt das Kurzprogramm. In dieser kurzen Zeit mehr zu verlangen wäre unrealistisch. Nicht nur die Grünen, auch ihre KritikerInnen müssen sich von fundamentalistischen Reflexen verabschieden. Es ist völlig absurd, wenn sich die Bannerträger einer Zivilgesellschaft daran beteiligen, die Grünen vom Wunderkind zum Schmuddelkind herunterzuschreiben. Wenn etwa Die Zeit und Der Spiegel den Verlust bürgerlicher Freiheiten kritisieren, ohne sich zugleich positiv auf die einzige Partei zu beziehen, die engagiert für die BürgerInnenrechte eintritt. Oder wenn der überwiegende Teil der Umweltverbände und der ökologisch gesinnten Sozis die Grünen beim Thema Ökosteuer im Regen stehen läßt. „Prügeln lassen dürft ihr euch allein, siegen können wir dann gemeinsam“ – diese Rechnung geht nicht auf!

Eine Horrorvision ist heute bedrohlich nahegerückt: Bündnis 90/Die Grünen könnten an der Fünfprozenthürde scheitern, es kommt zu einer großen Koalition mit einer populistischen Opposition aus PDS, FDP und möglicherweise einer rechtsradikalen Partei.

Den Grünen noch eine Chance zu geben ist weit mehr als ein Akt der Barmherzigkeit. Wir können es uns, bei aller notwendigen Kritik, schlichtweg nicht leisten, das grüne Talent zu vergeuden und am langen Arm verhungern zu lassen – dieses Land nicht und schon gar nicht die linksliberale Öffentlichkeit. Thomas Poreski

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