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Sozialpartner gegen Sozialstaat

Mit der Solidargemeinschaft ist es in den Niederlanden vorbei. Gewerkschaften und Unternehmer wollen die Sozialversicherung privatisieren  ■ Aus Amsterdam Jeannette Goddar

Mitten in die Koalitionsverhandlungen der alten und neuen Partner in Den Haag platzten in der vergangenen Woche zwei Männer: Gemeinsam wollten Arbeitgeberpräsident Hans Blankert und der Gewerkschaftsvorsitzende Lodewijk de Waal Ministerpräsident Wim Kok von der sozialdemokratischen Partei der Arbeit (PvdA) und seine Verhandlungspartner der rechtsliberalen Vereinigung für Freiheit und Demokratie (VVD) sowie der linksliberalen Demokraten66 (D66) davon überzeugen, daß ihr Vorschlag, das Sozialversicherungssystem ins 21. Jahrhundert zu bringen, besser ist.

Arbeitgeber wie Arbeitnehmer würden das Sozialversicherungssystem der Niederlande gern komplett privatisieren. Die Regierung dagegen will die Entscheidung, ob jemand arbeitsunfähig oder selbstverschuldet arbeitslos ist, unter staatlicher Aufsicht belassen.

Bereits beschlossen ist, daß in der kommenden Legislaturperiode zunächst die Arbeitslosen- und die Arbeitsunfähigkeitsversicherungen sowie womöglich später auch noch die Sozialhilfe den ungezügelten Kräften des Marktes überlassen werden sollen. Verständlich ist das nur vor dem Hintergrund des vielgerühmten „Poldermodells“, der konzertierten Aktion von Staat, Gewerkschaften und Arbeitgebern für neue Arbeitsplätze.

Unter dem Motto „Werk, werk, werk“ (Arbeit, Arbeit, Arbeit) war die sozialliberale Koalition vor vier Jahren an die Regierung gelangt. Seitdem hat sie international beachtete Erfolge erzielt: eine halbe Million Arbeitsplätze in vier Jahren, eine Wachstumsrate von über drei Prozent, eine Arbeitslosenquote von fünf Prozent.

Angesichts dessen ist kaum jemand geneigt, den einmal eingeschlagenen Weg zu verlassen. Im Gegenteil. In der kommenden Legislaturperiode sollen auch die letzten in Jobs gebracht werden. Das aber, so die Experten in Wirtschaft und Politik, könne nur gelingen, wenn der „Anreiz zu arbeiten“ größer, der Bezug staatlicher Unterstützung schwieriger und die Vermittlung der Arbeitsämter effektiver werde.

Deshalb hat Arbeits- und Sozialminister Ad Melkert (PvdA) bereits im April einen Entwurf zur „Neuordnung der sozialen Sicher- heit“ auf den Weg gebracht. Spätestens ab dem Jahr 2000 sollen Versicherungsunternehmen auf dem Sozialversicherungsmarkt um Kunden konkurrieren. Neben Lebens-, Renten-, und Einbruchsversicherungen sollen sie dann die obligatorischen Arbeitnehmerversicherungen gegen Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit im Paket anbieten. Erhoffte Wirkung: Die Versicherungen haben ein größeres Interesse als staatliche Institutionen, daß ihre Klienten möglichst schnell wieder einen neuen Job finden. Also arbeiten sie effektiver an der Reintegration.

Auch der gesamte arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sektor von der Zeitarbeitsfirma bis zum Versicherer soll unter einem Dach angesiedelt werden. Insgesamt 230 „Zentren für Arbeit und Einkommen“ sollen landesweit geschaffen werden. Dort bekämen Arbeitslose, Invaliden und Sozialhilfeempfänger künftig nicht nur ihr Geld ausbezahlt, sie könnten auch Weiterbildung und Umschulung organisieren sowie Jobangebote abfragen. Laut einem Gesetzentwurf, dessen Absegnung als sicher gilt, werden die Daten von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern demnächst automatisch an Arbeitsvermittler weitergegeben.

Strittig ist noch, ob neben den Versicherungsunternehmen durch den Staat beaufsichtigte Auswahlstellen über die Bezugsberechtigung entscheiden. Die Regierung will damit verhindern, daß Versicherer aus purer Gewinnsucht Gelder verweigern. Auch die 548 Gemeinden plädieren dafür, daß der Staat seinen Einfluß nicht vollständig abgibt. Sie wollen weiterhin bei der Arbeitsförderung mitreden – und auch für die Zahlung von Sozialhilfe zuständig sein.

Die Tarifparteien hingegen kämpfen aus nicht ganz uneigennützigen Motiven um ein vollständig privatisiertes System: Seit eine staatliche Kommission 1993 aufdeckte, daß Gewerkschaften und Arbeitnehmer seit 1973 in einer konzertierten Aktion 900.000 Niederländer in den gut abgesicherten Invalidenstand entlassen hatten, um die Arbeitslosenzahlen zu schönen und Massentlassungen zu verdecken, verlaufen die Fronten zwischen Staat und Tarifparteien. Mit diversen Maßnahmen hat die Regierung seitdem den Einfluß des Sozialökonomischen Rates, des Beratungsorgans der Tarifparteien, zurückgedrängt.

Welche Auswirkungen die Privatisierung des einst vorbildhaften sozialen Netzes in den Niederlanden auf die Bürger haben wird, ist bis auf zwei Punkte völlig offen. Erstens bekommt die Regierung die Verantwortung für ihren Sozialstaat, die sie in diesen Jahren abgibt, nie mehr zurück. Zweitens sind die Zeiten der Solidargemeinschaft endgültig vorbei.

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