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Neue Folterinstrumente, gleiche Qual

■ taz-Serie, letzter Teil: Über die fatale Kontinuität des Nachkriegsstädtebaus bis in die Gegenwart Von Till Briegleb

Es gäbe außer den bisher behandelten drei Perspektiven der Innenstadtplanung – der architektonischen, der denkmalpflegerischen und der stadtplanerischen – sicherlich noch diverse Komplexe und Einzelerscheinungen, die der Betrachtung lohnen würden. Etwa die Selbstdarstellung eines Stadtstaates in seiner Innenstadt als reines Kommerzzentrum. Dazu gehört sicherlich die unsägliche Hamburger Kultur der City-Passagen, die seit 1981 (Eröffnung des Hanseviertels) alle traditionellen Qualitäten der Passagen auf den Kopf stellt: Statt großzügigen öffentlichen Durchgängen, die Treffpunkt und Kommunikationsort für alle Bürger einer Stadt sind, sorgen enge Gänge, fehlende Sitzgelegenheiten, mürrische, private Wachdienste und neureiches, protziges Zurschaustellen von Ware dafür, daß sich hier nur diejenigen treffen, die 5000 Mark für einen Golfschläger oder 900 Mark für ein Hemd ausgeben können. Auch die Rolle der Kultur für die Innenstadt, die widersprüchliche Haltung von Investoren zur funktional gemischten Stadt oder die verkehrspolitischen Fehlentscheidungen, insbesondere die geradezu anachronistische Fixierung auf das Auto als Maßstab aller Baupolitik durch Eugen Wagner, wären weitere Ansatzpunkte für eine Kritik der Innenstadtentwicklung der letzten zehn bis 15 Jahre. Dennoch würde man auch über all diese Punkte immer wieder zu den zentralen Kritikpunkten zurückkehren, die in den ersten drei Folgen ausgebreitet wurden: die fehlende funktionale, soziale und architektonische Vielfalt. Deswegen beschäftigt sich dieser abschließende, vierte Teil mit dem Wurzelwerk dieser Fehlentwicklung, und dabei stößt man auf die überraschende Kontinuität der Hamburger Stadtentwicklung aus den Prinzipien des Städtebaus der Moderne und Nachkriegsmoderne.

Das städtische Leitbild der Moderne, das nach dem 2. Weltkrieg auch in Hamburg großflächig vollstreckt wurde, basierte auf drei zentralen Forderungen. Die neue Stadt sollte funktional entmischt, aufgelockert und autogerecht aufgebaut sein. Was das in letzter Konsequenz bedeutet, zeigte Le Corbusiers Entwurf einer „vertikalen Gartenstadt“ für Paris, der berühmt-berüchtigte Plan voisin de Paris von 1925.

Le Corbusier schlug vor, die Altstadt von Paris komplett abzureißen, um dann eine monumentale Hochhaussiedlung dort anzulegen. In Le Corbusiers eigenen Worten liest sich dieser Alptraum einer gleichförmigen Wolkenkratzerstadt so: „Unser schneller Wagen fährt auf der erhöhten Schnellstraße zwischen den majestätischen Wolkenkratzern: wenn wir näher kommen, sehen wir eine Wiederholung von 24 Wolkenkratzern gegen den Himmel; links und rechts am Rande jedes Bezirkes stehen die städtischen und die Verwaltungsgebäude, und in dem Raum dazwischen sind Museen und Universitätsgebäude. Die ganze Stadt ist ein einziger Park.“

Dieser maßlose Haß gegen die alte europäische Stadt, der sich in dieser stolzen Vision verkleidet, traf im Nachkriegsdeutschland bei den zuständigen Stadtplanern und Politikern auf fruchtbaren Boden. Die Stimmung der Verdrängung und des Schlußstrichziehens unter die unmittelbare Vergangenheit begünstigte die Begeisterung für radikale Lösungen, unter denen Hamburg in großen Gebieten noch immer leidet. So sah der Innenstadtwettbewerbvon 1948 überwiegend Entwürfe, die das Hamburger Zentrum im Stile eines Plan Voisin umgestalten wollten. Was die Bomben übrig gelassen hatten, wollte man abreißen, um die perfekte antiurbane Vision einer steingewordenen formalen Freiheit und Gleichheit zu realisieren. Zwar bewahrten die leeren Staatskassen Hamburg vor dem Verlust der letzten Spuren gewachsener Stadtpersönlichkeit, aber die Maximen dieser Planungstheorie bestimmten doch die Innenstadtentwicklung nach dem Krieg als Richtschnur.

Zwar haben Heerscharen von Kritikern in aller Welt immer wieder die ökonomische, ökologische, soziale und psychologische Unverträglichkeit des Städtebaus der Moderne inklusive seines globalen Zerstörungspotentials durch endlose Stadtwucherung und explo-sionsartige Vermehrung des Autoverkehrs belegt – von Jane Jacobs 1961 bis Richard Rogers 1995, von Alexander Mitscherlich 1965 bis Andreas Feldtkeller 1994 gibt es dazu eine Unmenge berühmter Publikationen. Aber gegen diese theoretischen Erkenntnisse igeln sich Planer und Politiker, soweit sie diese überhaupt kennen, nicht nur in Hamburg mit sogenannten Sachzwängen ein.

Facelifting ohne Diagnose

Tatsächlich ist es auch nicht die ursprüngliche sozial-utopistische Ausrichtung des Städtebaus der Moderne, der seine Kontinuität legitimiert, als vielmehr die Bequemlichkeit und mathematische Übersichtlichkeit seines Konzeptes, die Beamten, Politiker und Investoren gleichermaßen entgegenkommt. Und deswegen wird – wenn überhaupt – stets nur halbherzig auf die Kritik reagiert. Eine Politik der Einzelentscheidungen, bei der sich der finanzielle Sachzwang meist durchsetzt, führt aber oft zu Verschlimmbesserungen. Und dies gilt leider – trotz des kürzlich von Oberbaudirektor Egbert Kossak offiziell ausgerufenen Feindbildes des 50er Jahre-Städtebaus – auch für die Stadtentwicklungspolitik in Hamburg der letzten Dekade. Die Folterinstrumente sind zwar andere geworden, die Qual bleibt aber die gleiche.

Zwar hat man sich in Hamburg in den letzten zehn bis zwölf Jahren bemüht, die innere Stadt baulich zu verdichten, um so den offensichtlichsten Makel der Stadt der 50er Jahre zu beseitigen, die unpersönliche Aufgelockertheit. Doch entsprang die nun aufs Programm gesetzte Blockrandbebauung weniger der Diagnose eines verworfenen Konzeptes als einem intuitiven Unwohlsein mit dem äußeren Erscheinungsbild der Nachkriegssolitäre. Deswegen sprach man primär über eine diffuse architektonische „Identität“, die es neu zu erringen galt, und viel zu selten von der notwendigen Verschränkung von Wohnen, Arbeiten, Handel und Freizeit auf Fußgängerdistanz, dem inhaltlichen Gegenkonzept zur Moderne.

In den 80er Jahren, wo der konjunkturelle Aufschwung auf ein neues Stadtkonzept hätte treffen müssen, um nicht alte Fehler zu zementieren, wurden von Seiten der Stadtpolitik keinerlei ernsthafte Anstrengungen unternommen, die Terrainbildung und die starre Ausrichtung auf das Auto als Inbegriff einer falsch verstandenen Mobilität zu korrigieren. Und damit blieben die beiden entscheidensten Ursachen der Stadtzerstörung bis heute virulent. Geschäftsviertel blieben Geschäftsviertel, Wohnquartiere Wohnquartiere, Freizeit- und Kultureinrichtungen wurden zu Inseln zusammengeballt, sei es als Kunstmeile oder als Erlebnispark am Volksparkstadion, und Einkaufszentren befriedigen im weiter steigenden Maße die Bedürfnisse einer zersiedelten Gemeinschaft von bedingungslosen Autofahrern.

Für die Folgen dieser Politik gibt es zwar in Hamburg noch weit drastischere Beispiele als die Innenstadt – die City Süd beispielsweise. Aber auch innerhalb des alten Wallrings fehlte es an Bemühungen, eine die Stadt neu belebende Balance der Nutzungen zu erreichen, welche die im 19. Jahrhundert begonnene, fatale Entwicklung der Innenstadt zum Hauptgeschäftsviertel hätte noch umkehren können. Dazu hätte man in der Innenstadt die Funktion Wohnen vehement stärken müssen.

Doppelfehler statt Matchpoint

Stattdessen wurde und wird ein Bürogigant nach dem anderen verwirklicht – die Fleetachsenbebauung, die katastrophale Erweiterung des Springer-Verlages sowie die Neubebauung der Ost-West-Tangente seien u.a. genannt. Dem stehen lediglich vereinzelte Wohnungsneubauten gegenüber, die zudem mit ihrer Backstein-aus-der-Tube-Ästhetik zwischen meist gründerzeitlicher Altbausubstanz wie Metzger neben eleganten Damen stehen.

Der momentane Rekord an Büroleerstand von über 4 Prozent (das sind knapp 500.000 Quadratmeter, Tendenz steigend) war zudem lange genug vorhersehbar, um rechtzeitig gegen unsinnige Konzentrationen von Büroneubauten in der Innenstadt zu argumentieren. Wenige Bürohochhäuser in der City-Süd anstelle der dort dann entstandenen niedriggeschossigen Bürokomplexe hätten hier die nötige Entlastung geschaffen und damit zwei einmalige Entwicklungschancen geboten: Für die Innenstadt die Möglichkeit, sich zu einem besser gemischten Quartier zu verändern, und für Hammerbrook die Chance, auf einer tabula rasa die exemplarische Entwicklung eines gemischten Stadtviertels in zentraler Lage zu versuchen. Doch anstatt das Areal des ehemaligen Arbeiterviertels für einen gehörigen Anteil der aktuell fehlenden 50.000 Wohnungen in Einklang mit Büros nutzbar zu machen, lies man gewerblichen Wildwuchs zu und trieb lieber die weitere städtische Zersiedlung wie in Allermöhe voran. Dabei hätte eine auch sozial differenzierte Wohnungsbaupolitik an dieser Stelle zusätzlich verhindert, daß der innerstädtische Bereich vorrangig Lebensraum von Gutverdienern wird.

Doch mangels politischer Leitlinien wurde in beiden Vierteln gleichermaßen jede zukunftsorientierte, humane und ökologisch vertretbare Stadtentwicklung durch eine flächenfressende und funktionszerstörende Bürovermehrung in der Horizontalen verunmöglicht. Ein ganz wesentlicher Grund für diese Politik liegt sicherlich darin begründet, daß die Stadt ihre innerstädtischen Grundstücke höchstbietend verscherbeln muß, um damit eine schwer verschuldete Finanzpolitik zu retuschieren. Und damit wird es selbst gutwilligen Investoren (die es eigener Aussage nach ja durchaus geben soll) völlig unmöglich gemacht, Wohnungen im innerstädtischen Bereich zu integrieren, für den es vehemente Nachfrage gibt. Kleine Reparaturversuche wie an der Gerstäcker Straße können dann nur noch Schönheitsflecken sein.

Wozu braucht die Stadt ein Zentrum?

Natürlich kann man schlußendlich auch fragen, wozu eine Großstadt mit derartig vielen vitalen Vierteln wie Hamburg überhaupt eine lebendige, bewohnte und Fremde wie Einheimische gleichermaßen anziehende Mitte braucht? Warum soll man die Auflösung der Stadt in eine Unmenge sich selbst genügender Archipele, die keinerlei Ausrichtung auf ein städtisches Zentrum mehr benötigen, stoppen? Wozu braucht der Eimsbüttler, die St. Paulianerin, die Rahlstedterin oder der Ohlsdorfer ein Stadtzentrum, wenn sie vom Park bis zur Fußgängerzone, vom Kino bis zum Fußballverein alles in unmittelbarer Nähe haben?

Die Beantwortung dieser Fragen ist natürlich gleichzeitig ein Schlußplädoyer dafür, die letzten verbliebenen Möglichkeiten einer inzwischen fast vollständig verplanten Innenstadt dafür zu nutzen, die Prinzipien funktionaler, architektonischer und sozialer Vielfalt umzusetzen oder zumindest die hier gemachten Fehler nicht endlos woanders zu wiederholen.

Wobei die erste Antwort auf obige Fragen natürlich ganz simpel lautet, daß jedes mehrdimensionale urbane Quartier, in dem Tag und Nacht die verschiedensten Menschen den verschiedensten Beschäftigungen und Launen nachgehen, ein glücklicherer Stadtzustand ist als ein nur punktuell und zu bestimmten Zeiten belebtes Viertel, wie die Hamburger Innenstadt. Desweiteren zeigt aber die Erfahrung mit anderen Millionenstädten, die ihr Zentrum verlieren oder nie ein wirkliches gehabt haben, daß dies zur endlos wuchernden Territorisierung führt. Los Angeles ist das bekannteste Horrorbeispiel einer solchen zusammenhanglosen Stadtlandschaft, die sich in Form immer weiterer sozialer Ghettobildung in die Landschaft frißt.

Sich bekriegende oder gegeneinander abgeschottete Nachbarschaften, sortiert nach sozialem Stand und getrennt durch Straßen, die zur Vermeidung jeglichen Kontaktes am besten auf Stelzen liegen (siehe oben), wären sicherlich nicht das unmittelbare Resultat einer weiteren gewerblichen Verdünung der Innenstadt. Dennoch führt jede Stadtentwicklungspolitik, die sich nicht auf ihr Zentrum hin orientiert, zwangsläufig zu einer gesellschaftlichen Seperatisierung im Geiste, in deren Schlepptau Intoleranz, sozialer Dünkel und persönliches Schollendenken entstehen.

Denn, und dies ist der vielleicht wichtigste Punkt im Plädoyer für eine vitale Innenstadt: ein Zentrum hat eine ungeheure symbolische Bedeutung. Es ist der Stellvertreter für seine Gesamtheit, und wenn der Stolz auf diesen gemeinsamen Mittelpunkt bei den Bürgern mangels Attraktivität ertaubt, dann ertaubt auch ein Verantwortungsgefühl für die Stadt als vollständiger Körper. Das Resultat einer solchen Gleichgültigkeit ist eine Kultur der Privatinteressen. Was kümmert den Blankeneser das Elend Lohbrügger Jugendlicher, welcher Luruper stört sich dann an der Selbstmordrate in Kirchdorf Süd? An den sogenannten sozialen Brennpunkten aber verstärkt die Parzellisierung das Gefühl, alleine gelassen zu werden, und der sogenannte soziale Sprengstoff reichert sich täglich um weitere Vorurteile und Abschottungshaß an. Wo die geistige Schnittmenge fehlt, da fehlt auch der Wille zur Kommunikation. Umgekehrt aber kann eine als wohltuend erlebte Mitte auf das ganze Stadtgebilde überaus positiv wirken. Von Siena bis London, Prag bis Paris reichen die Beispiele aus ihrem Zentrum pulsierender Städte.

Letztlich besteht natürlich auch die Gefahr, daß die negativen innerstädtischen Tendenzen weiterwuchern und die umliegenden Gebiete ebenso trockenlegen. Unverträglich große Bürokomplexe, wie am Millerntor, sind erste warnende Zeichen für eine derartige Ausbreitung, die völlig unproblematisch wäre, wenn der innerstädtische Raum eine ähnliche funktionale Mischung aufweisen würde, wie St. Pauli. Daß er das wenigstens an zwei Stellen noch tut, am westlichen Hafenrand und rund um den Großneumarkt, bewahrt die Innenstadt bis heute davor, als lebende Leiche mit Geldströmen in den Adern darniederzuliegen. Da aber durch die Planungs- und Bautätigkeit der letzten 12 Jahre in der Innenstadt eigentlich keinerlei Spielraum für konstruktive Erneuerung mehr besteht, muß die Titelfrage dieser Serie so beantwortet werden: Weder Zentrum noch Zombie sondern Zombie am Tropf.

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