■ Rechtschreibreform: Kiel will den Volksentscheid verhindern: Der Posse letzter Akt
Das Spiel geht weiter, die deutsche Rechtschreibposse ist immer noch nicht zu Ende. Am 27. September dürfen die Bürger in Schleswig-Holstein nicht nur wählen, sie dürfen auch entscheiden, pro oder contra neue Rechtschreibung. Die Zahl der nötigen 106.000 Unterschriften für einen Volksentscheid wurde mit 223.388 Unterschriften bei weitem übertroffen. Den nächsten Spielzug bereitet nun die Landesregierung in Kiel vor. Als wollte sie den Bluff noch weiter aufblasen, überlegt sie, wie sie den Volksentscheid – es wäre der erste in Schleswig-Holstein überhaupt – verbieten lassen kann. Bravo, so kann man den Wichtigtuern und Paranoikern vom Schlage des Lübecker Anwaltsehepaars Elsner, der Oberlehrer à la Denk & Co. Oberwasser verschaffen und den Stammtischen ihren Verdacht beglaubigen, Reformen seien Manöver, das Volk zu täuschen, zu verwirren und für dumm zu verkaufen. Große Sommerfestspiele der Pseudopolitik. Dann dürfen alle, von Schröder bis Westerwelle, noch mal ein Interview geben. Oh, Gott.
Rechtschreibung galt bis zu Meister Duden selbst als die „Magd des Schreibens“, eine Hilfe, sich dem Lesenden auf Anhieb, ohne große Dekodierungsarbeit, verständlich zu machen. Aber in dem Maße, in dem es nicht um das ging, was man zu sagen beziehungsweise zu schreiben hatte, wurde die Rechtschreibung immer wichtiger. Orthographie wurde als Gedankenorthopädie das wichtigste Schulfach: Vorsätzliche Einschränkung der geistigen Beweglichkeit, Kontaminierung des Schreibens mit Angst, immer noch – häufig vom ersten Schultag an.
Manch einer, der dennoch halbwegs zu seiner Form gefunden hatte, sah im Kampf zweier Linien der Rechtschreiber wohl einen Versuch, ihn zu verwirren. Die Paranoiker unter den Verwirrten gründeten Bürgerinitiativen. „Wir sind das Rechtschreibvolk“, so heißt die in Berlin tatsächlich. Der völlig unbeabsichtigte, aber um so wirksamere Effekt des deutschen Rechtschreibkrieges war allerdings die befreiende Entdeckung des „tertium datur“. Wenn man ein Wort so und anders schreiben darf, vielleicht gibt es dann auch eine dritte, meine eigene Möglichkeit – immer vorausgesetzt, daß der Text lesbar bleibt. Im Kampf von Butterexperte gegen Margarineexperte haben sich nun beide lächerlich gemacht, und Karlsruhe ist nicht ins Fettnäpfchen getreten. Dabei sollte es auch bleiben. Nun, liebe Landesregierung in Kiel, überlegt mal wieder, was Ihr schreiben wollt, und spielt das ausgelaugte Spiel mit diesen saublöden Verbotsüberlegungen nicht weiter. Reinhard Kahl
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