: Verwehter Seitenscheitel
Unser Bürgermeister besichtigt seine ganz persönliche Baustelle: das Rathaus. Komisch, komisch: Da war ein Bauarbeiter aus Essen ■ Von Silke Mertins
Eine Brille hatte Ortwin Runde nicht dabei. Und so glaubte unser Bürgermeister am Horizont die sozialdemokratischen Symbole des Hamburger Wirtschaftswachstums zu erkennen. Er sehe ziemlich deutlich „das Mühlenberger Loch, das bald zugeschüttet wird, Altenwerder, das sich prächtig entwickelt, und den blühenden Hafen“. Sein Ausblickspunkt befand sich in luftiger Höhe: Auf dem 112 Meter hohen Turm des Hamburger Rathauses stand der Senatschef gestern mit verwehtem Seitenscheitel und ließ seinen „Altersweitblick“ über die Stadt schweifen.
Nicht allein natürlich. In seiner großen Güte erlaubte er der Presse, sich bei seiner „Rathausinspektion“ öffentlichkeitswirksam an seine Fersen zu heften. Seit 1992 bis voraussichtlich noch 2001 wird das über ein Jahrundert alte Gebäude für 70 Millionen Mark renoviert und instandgesetzt. „Ich begucke mir das alles mal, um zu sehen, wie die Arbeit so vorangeht.“ 647 Räume hat das Rathaus. „Das ist verdammich viel“, so Runde. Verlaufen habe er sich aber noch nie, und letztlich liebt er von allen das Senatsgehege am liebsten. „Da bin ich im Kreise meiner Lieben.“
Zunächst ging es steil bergauf. Viele, viele Treppen bestieg uns Ortwin mit lädiertem Knie und unterdrücktem Hecheln. „Eine Trainingseinheit vor dem Urlaub“, denn am Samstag fährt der Regierungschef mit Hund Nico, Frau Gisela und den Söhnen Hanjo und Bernd wie jedes Jahr nach Dänemark zum Surfen.
„Die Augen tränen vor Schönheit“, gluckst Runde auf seine Stadt blickend. Er kann sich nicht entscheiden, ob er den Blick auf die Alster oder den auf den Hafen besser finden soll. Dann ist ihm das Binnengewässer doch zu „ästhetisiert“. Der Hafen dagegen, „der brummt“. Daß seine Parteikollegin, Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit, sich den Fauxpas erlaubt, öffentlich zu erklären, sie bevorzuge Berlin, findet er „empörend“, und er glaubt's auch nicht. „Als sie in Berlin Senatorin war, ist sie doch jedes Wochenende hergekommen!“
Wie dem auch sei, die Wendeltreppen mußten sodann wieder hinuntergestiegen und Bauarbeiter gesucht werden. Ein Sozialdemokrat muß schließlich an seine proletarischen Wurzeln denken. Keine Mühen scheuend, stieg unser Bürgermeister über Baugerätschaften, balancierte über Bretter, posierte vor der Rathausuhr, lief ein Gerüst entlang – „die sind ja viel stabiler als früher“ – und fand Steinmetz Rolf Urban (35), seit dreieinhalb Jahren auf Montage in Hamburg. Er wohnt in Essen. Nanu? Essen? Wer hätte das gedacht? Haben wir nicht gerade erst gelernt, daß Hamburger Arbeitsplätze zu bevorzugen sind, und es sich deshalb bei der „Ehegatten-Affäre“ Fischer-Menzel keinesfalls um Filz handelt? „Wir müssen uns an EU-Richtlinien halten und europaweit ausschreiben“, sagt Runde eilig. „Wir sind doch nicht Kleinkleckersdorf.“ Ach so.
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