: Aus dem Medizinkoffer geplaudert
Die Dopingaffäre um Festina ist weiter das große Thema bei der Tour de France, und der Direktor des Radsport-Spektakels, Jean-Marie Leblanc, sehnt sich nach den Bergen ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – „Der Masseur singt“, verkündet im passenden Unterweltidiom die Gazzetta dello Sport, und was Willy Voet, Angestellter des renommierten Radsport-Teams Festina, im Knast von Loos bei Lille ausgepackt hat, ist alles andere als erfreulich für die Mannschaft um die Tour-de-France-Favoriten Richard Virenque und Alex Zülle. Der 53jährige, der mit 400 Ampullen verbotener Medikamente in einem offiziellen Tour-Fahrzeug erwischt wurde, gab nicht nur an, daß die Dopingmittel tatsächlich für Festina bestimmt waren, sondern berichtete auch, daß er ähnliche Aufträge schon öfter ausgeführt habe.
Die Verantwortlichen des Radsportteams, dessen uhrenproduzierender Sponsor prompt die sofortige Beendigung des Vertragsverhältnisses für den Fall in Aussicht stellte, daß sich die Vorwürfe bestätigen, reagierte empört. „Ich bin gegen Doping“, behauptete Teamarzt Eric Ryckaert, und Teamchef Bruno Roussel ereiferte sich am Dienstag darüber, daß Dinge an die Öffentlichkeit geraten würden, die dort nichts zu suchen hätten – etwa Gerüchte, daß auch im Festina-Hauptquartier in Lyon belastendes Material gefunden wurde –, und forderte, endlich vom Untersuchungsrichter vernommen zu werden. Der zeigt jedoch wenig Interesse daran, von Roussel darüber belehrt zu werden, „wie sein Team funktioniert und daß die Zuweisung von Verantwortlichkeiten an die Direktion des Festina-Teams in dieser Angelegenheit ohne Zusammenhang ist“, wie es in einer Erklärung der verdächtigen Equipe heißt. Vermutlich rechnet der Herr Richter bloß mit Ausflüchten. Die Festina- Leute jedenfalls blieben bei der Rückkehr aus Irland unbehelligt von Polizei und Zoll, während anderen Teams die Koffer durchsucht wurden. „So, wie wenn man aus Andorra kommt“, scherzte ein Mannschaftsleiter.
Festina ist nicht zum Scherzen zumute, und Virenque nahm sich vorsichtshalber schon mal einen Anwalt. Ungereimtheiten gibt es durchaus in der Aussage des gefangenen Masseurs. Die Menge an Präparaten, die er mit sich führte, hätte ausgereicht, den gesamten Tourtroß bis in die Haarspitzen zu dopen, und der Verdacht ist naheliegend, daß zumindest ein Teil für andere Mannschaften bestimmt war. Einen ähnlichen Fall hatte es letztes Jahr beim Giro d'Italia gegeben, als sich ein Masseur des inzwischen aufgelösten GM-Teams als Schlüsselfigur eines schwunghaften Dopinghandels entpuppte.
Daß die Benutzung unerlaubter Mittel integraler Bestandteil des Radsports ist, dürfte weithin bekannt sein und wird von Leuten wie dem Banesto-Chef Echávarri indirekt auch zugegeben, wenn er die Härte des Sports heraushebt und davon spricht, daß schon die alten Griechen verbotene Mittel benutzten (siehe taz-Interview vom Montag). Positive Kontrollen sind an der Tagesordnung, die Strafen für Ersttäter gering, weshalb auch der im März ertappte Festina-Fahrer Moreau munter bei der Tour mitfährt.
„100 Prozent aller Radprofis sind gedopt“, behauptet Gérald Gremion, ein Sportmediziner aus Lausanne, und nennt auch Namen, zum Beispiel den des Belgiers Museeuw, der wegen Krankheit bei der Tour fehlt. Während der Tour de Suisse habe er Fahrer gesehen, die sich sogar selbst spritzten. Da die Verschärfung der Kontrollen einen unbeschwerten Einsatz von Doping kaum zuläßt, kann man davon ausgehen, daß neben zahlreichen legalen Arzneien am ehesten Mittel zum Einsatz kommen, die (noch) nicht auf den Verbotslisten stehen, die nicht nachweisbar sind oder deren Einnahme verschleiert werden kann. Auf der anderen Seite hat der Hämatokrit- Grenzwert von 50 Prozent nicht nur zur Folge, daß Fahrer mit zu vielen roten Blutkörperchen disqualifiziert werden, sondern auch, daß die Ärzte das Mittel EPO so verwenden können, daß genau der Grenzwert erreicht wird. Pikant in diesem Zusammenhang die Darstellung des ehemaligen Radprofis Paul Kimmage aus Irland, daß bei der Tour 1997 ausgerechnet die erfolgreichsten Teams Festina und Telekom keinem einzigen Bluttest unterzogen wurden. In diesem Jahr, so Telekom-Arzt Heinrich, sei die Mannschaft dafür schon viermal kontrolliert worden.
Wer im Glashaus sitzt, wirft ungern mit Steinen, und dies erklärt die zurückhaltende Reaktion der meisten Tour-Teams auf die Affäre. „Das kann Auswirkungen auf den gesamten Radsport haben“, weiß Telekom-Fahrer Udo Bölts, und Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc, der den unseligen Masseur Voet wahrscheinlich am liebsten mit einem Betonklotz an den Füßen in der Irischen See versenken würde, hofft inständig, daß das sportliche Geschehen bald die dunklen Dopingwolken vertreibt, so wie es bisher immer der Fall war. „In den Pyrenäen werden genauso viele Zuschauer stehen wie immer“, ist Leblanc sicher, „die bewundernswerten Leistungen und Siege sind stärker als alles andere.“ Egal, wie sie zustande kommen, hat er vergessen hinzuzufügen.
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