: Integrationswüste Deutschland
■ Chef der umstrittenen islamistischen Gruppierung Milli Görus, Mehmet Erbakan, präsentierte sich in Bremen liberal: „Demokratie und Islam widersprechen sich nicht zwangsläufig“
Hat der islamistische Wolf Kreide gefressen? Rohe Sprachbilder tauchen in der Debatte um muslimische Gruppierungen und deren Vertreter in Deutschland immer wieder auf. Das gilt insbesondere dann, wenn diese sich wie der Generalsekretär der „Islamischen Gemeinschaft Milli Görus“, Mehmet Erbakan, am Mittwoch abend in der Bremer Angestelltenkammer als liberal präsentieren.
Doch seinem Auftritt als integrations- und dialogbereiter religiöser Muslim stehen Einschätzungen des Verfassungsschutzes entgegen. Danach wird die Vereinigung, der in Deutschland rund 600.000 Muslime angehören, als integrationsfeindlich eingestuft. Die Organisation, die in Deutschland zahlreiche Moscheen und Koranschulen betreibt, wird bezichtigt, hier einen Gottesstaat aufbauen zu wollen – und mithin die demokratische Grundordnung abzulehnen. Ihr werden außerdem enge Verbindungen zu der in der Türkei mittlerweile verbotenen islamistischen Refah-Partei von Necmettin Erbakan nachgesagt, die 1993 an einem weltweit aufsehenerregenden Brandanschlag auf Intellektuelle und Schriftsteller in Sivas beteiligt gewesen sein soll.
Dagegen vertrat Milli Görus- Chef Mehmet Erbakan, Neffe des türkischen Refah-Erbakan, eine andere Position. Zur Frage „Islam und Demokratie – wie verfassungstreu ist Milli Görus?“ von der „Islamischen Föderation“ in der Gröpelinger Fatih-Moschee eingeladen, betonte er „Islam und Demokratie sind vereinbar – solange die Muslime das Recht auf freie Religionsausübung bekommen“.
Dabei ging der in Köln geborene 31jährige Mediziner mit den eigenen Anhängern nicht zimperlich um. Vor über hundert überwiegend männlichen MuslimInnen in der Bremer Angestelltenkammer und vor laufender Kamera des als liberal geltenden, der Refah-Partei nahestehenden türkischen TV-Senders „Kanal 7“ räumte Erbakan auch antisemitische Tendenzen innerhalb seiner Organisation ein – die jedoch unter jüngeren Muslimen abnähmen. Diesbezüglich haben sich insbesondere die erste Generation türkischer Zuwanderer und zum Predigen eingereiste Imame unrühmlich hervorgetan. In Deutschland sehe er „im täglichen Leben Juden und Muslime eher auf einer Seite“ – auf der der diskriminierten Minderheit.
Was „Ungläubige“ betreffe, so gelte für ihn das Toleranzgebot. So sollen sich auch Christen gemäß dem Koran nach dem richten, „was ihnen herabgesandt wurde“. Dies umfasse heute ebenso Atheisten und Heiden, ergänzte Erbakan auf Nachfrage und betonte, er werde sich für sachliches islamisches Lehrmaterial in den Moscheen einsetzen. Gleichberechtigung religiöser und nichtreligiöser Lebensweisen müsse gelehrt werden.
Auch vom Vorwurf der Integrationsfeindlichkeit sprach Erbakan seine Organisation weitgehend frei, die „nicht hierarchischer als der DGB oder die Katholische Kirche organisiert“ sei. Allerdings dürften Muslime in der „Integrationswüste Deutschland“ nicht weiter diskriminiert werden – wie die kopftuchtragende Lehrerin, der in Baden-Württemberg kürzlich die Übernahme in den Schuldienst verweigert wurde. „Integration ist nicht gemeinsames Biertrinken“, so Erbakan. „Diese Frau hat doch alles getan, um sich zu integrieren.“ Sie spreche deutsch, bewerbe sich um Arbeit und wolle lediglich als sichbar religiöse Muslimin dazugehören.
Die Frage, wie muslimische Religiosität in Deutschland gelebt werden kann, beschäftigte am Mittwoch viele Zuhörer. „Immer sollen wir uns integrieren“, so der bekennend religiöse Vater mehrerer Töchter. Er seinerseits fürchte Diskriminierung – auch durch die weltlich orientierten türkischen Lehrer seiner Kinder. „Vielleicht ist das ein Vorurteil“, räumte er ein. „Aber warum bekommen unsere Kinder keine religiösen Lehrer?“ Zu diesem späten Zeitpunkt in der offenen Debatte applaudierten die Zuhörer, von denen viele der Fatih-Moschee zugerechnet werden dürfen, erstmals spontan. Hier offenbarte sich die Kluft zwischen zahlreichen älteren Milli Görus-Anhängern und einer neuen intellektuell-politischen Generation in Deutschland, wie sie Mehmet Erbakan vertrat. ede
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