Die fatale Heiligkeit von Arzt und Musiker

■ US-Gitarrist David Tronzo meditierte über den Stummfilm „Dr. Jekyll & Mr. Hyde“ in gotischem Ambiente

21 Uhr. Nach Bestehen harter Kämpfe mit wilden Wolkenformationen brechen die letzten Sonnenstrahlen durchs Fensterglas der Liebfrauenkirche und fluten die Apsis. Direkt unter diesem Geflimmer der Farben wimmeln madenartige Viren schwarzweiß über eine Leinwand. Ein stummer Dr. Jekyll glotzt forschend durch sein Mikroskop. Ein Schriftbild schwärmt an seiner Statt: „Ist es nicht faszinierend, wie die Wissenschaft den menschlichen Körper und Geist zu verändern vermag.“ Wie ein kritischer Beitrag zur Gentechnologie wirkt an dieser Stelle Stevensons Klasiker (sechsmal stummverfilmt) von der Aufspaltung eines fast ganz guten Arztes in einen ganz guten Arzt und ein widerliches Monster. Zentrales Thema von J.S. Robertsons Stummfilm ist aber nicht wissenschaftliche Hybris, sondern Kritik an allzu strenger Moral: Sie nämlich ist der Grund für die physische Schizophrenie des armen Doktors. Weil er jedem Genuß abschwört, machen sich die unterdrückten Triebe im gewalttätigen Alter-Ego Hyde Luft.

Abends, in vornehmen Gesellschaftszirkel: Endlich tritt der lang erwartete Dr. Jekyll ein. Durch seine liebliche Verlobte geht ein Ruck. Nicht durch die Musik. Abends, in der Gosse: Die Polizei fahndet nach dem Mörder Hyde. Seine Wirtin schüttelt es vor hämischen Lachen. Die Musik schüttelt es nicht. In Musikerkreisen gilt es als ausgesprochen unfein den Filmablauf zu verdoppeln – es sei denn, es geht um Chaplin oder Buster Keaton.

Auch David Tronzo klebt nicht am Zelluloid. Ebenso wie Dr. Jekyll bemüht er sich um heilige Enthaltsamkeit. Der in Bremen bestens eingeführte Slide Gitarrist aus dem Umkreis der Knitting Factory vergißt bei seiner Begleitmusik fast alle Klangspielereien für die die New Yorker Jazzavantgardeschmiede einsteht: Kein Jaulen, Quäken, Nölen. Keine deliranten Ekstasen. Nur in der Schlußklimax wühlt sich die Musik aus der subkutanen Unauffälligkeit hervor. Wie Dr. Jekyll sein Leben ganz dem Dienst an den Alten, Kranken, Zukurzgekommenen widmet, so opfert Tronzo sein Talent dem Film auf. Statt tausenderlei Klangfarben kennt er hier nur zwei: Dezentes Fließen und dezentes Pulsieren. Das Klima des Films ist damit gut getroffen, die komplexen Vorgänge nicht. An solches Maß an Hochachtung vor fremder Künstler Arbeit wußten einige im Publikum zu schätzen, andere nicht. (“War ja ziiiiemlich lahm.“)

Der Film leuchtete dafür umso mehr. Zwar wurde wie bei allen Stummfilmveranstaltungen die expressive Mimik von einigen pathosresistenten Besuchern nur als willkommene Lachnummer goutiert; die subtile Arbeit mit diversen Sorten von Augenverdrehungen, Nasenflügelbeben und Handhaltungen beeindruckt aber doch noch immer sehr. Nach diesem Abend des stillen Grauens ist eine Jekyll-Version ohne geduldiger Großaufnahmen und subtilen Suspense absolut nicht mehr vorstellbar.

Nach dem von der Sparkasse für umsonst veranstalteten Schauerstück griff eine Zuschauerhand nach einem aufliegenden Prospekt, das dazugehörige Augenpaar warf einen flüchtigen Blick darauf und gaben der Hand den Befehl: Liegenlassen. „Ach. Nur Werbung für Jekyll, das Musical.“ Im Film ist das Böse eklig häßlich. In Wirklichkeit kann es auch freundlich und bunt sein: wie ein Musical. bk