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Vornehme Bäder, verschwundene Lichtspielhäuser

■ Lesefreude und Augenschmaus: Das Stadtteilarchiv Ottensen zeichnet den Wandel der Ottenser Hauptstraße nach

In manchen Straßen spiegelt sich ein ganzer Stadtteil. Das quirlige Leben in der Ottenser Hauptstraße ist dafür ein treffender Beleg. Erscheint heute das Durcheinander von Altlinken, neuen Kreativen, Migranten und Punks mit ihren Hunderudeln als facettenreiche Visitenkarte des Stadtteils, so erweitert der historische Blick dieses Bild um viele Schattierungen. Kein Wunder also, daß das Stadtteilarchiv Ottensen sich in seiner neuesten Publikation der Ottenser Hauptstraße angenommen hat.

Wie unter einem Brennglas bündelt sich hier die Enwicklung des Dorfes zum brummenden Industriestandort bis zum heutigen Stadtteil. Kaleidoskopartig stellt das Buch die Kristallisationspunkte des Wandels vor. So erzählt zum Beispiel ein Beitrag davon, wie der alte Bahnhof abgerissen oder das Hertie-Kaufhaus 1953 mit Hilfe von Klettermaxe Arnim Dahl eröffnet wurde. Ein anderer berichtet über „sittlich gefährdete Frauen“ am Altonaer Bahnhof. „Was soll denn das Tau da oben?“ fragt danach, was ein Judentor war. Die Kneipe Möller's Eck darf natürlich genauso wenig fehlen wie der Bücherwurm oder längst verschwundene Lichtspielhäuser. Und die Geschichte der Hygiene wird anhand der Müllent-sorgung und der Cholera erzählt.

Lesefreude und Augenschmaus stellt sich auch bei der Geschichte des Bismarck-Bades ein. Warum sich dies in einer Anzeige als „vornehmstes Bad in Groß-Hamburg, mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet“, anpries, zeigen die Fotografien. Hier konnte man aber auch seinen vierbeinigen Liebling im „erstklassigsten Institut“ der Hunde-Abteilung wohnungstauglich auffrischen lassen. Frauchen oder Herrchen konnten sich derweil in römisch-irischen Heiß- und Trockenbädern laben oder sich mal so richtig den Rücken schrubben lassen. Laut amtlicher Statistik wurden allein im August 1926 71762 Bäder „abgegeben“. Und bis in die 80er ersetzte es für viele das eigene Bad, bevor es zur Feizeitinstitution umfunktioniert wurde.

In meist kurzen und knackigen Beiträgen schließen die Autorinnen und der Autor lokale Forschungslücken und stellen sozialgeschichtlich komplexe Ergebnisse anschaulich dar. Manchen Artikeln, die zu sehr dem „oral-history“–Ansatz geschuldet sind, hätte man allerdings eine weitere redaktionelle Überarbeitung gewünscht. Wer nicht lesen will, kann sich nicht beklagen: Die Bebilderung ist ausgezeichnet, wahre Schätze hat das Archiv gehoben. So lädt die auf den ersten Blick etwas unsortiert erscheinende Textsammlung zum Stöbern ein und wird letztlich dem sich ständig ändernden Straßenbild gerecht. Nur eine Frage bleibt: Wie kommt die Schreibweise zustande? Als die Straße preußisch geradlinig nach 1850 entstand, hieß sie noch Papenstraße im hinteren und Bismarckstraße im vorderen Teil. Erst seit 1950 firmiert sie als Hauptstraße. Für die Alteingesessenen allerdings völlig falsch geschrieben – Ottensener hätte es heißen müssen.

Thomas Schulze

„Ottenser Hauptstraße – Geschichte und Geschichten Ottensens“, herausgegeben vom Stadtteilarchiv Ottensen, Hamburg 1998, 26 Mark

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