"Ullrich ist nicht Zülle"

■ Marco Pantani beeindruckt in den Pyrenäen, hat aber kaum Hoffnung, Jan Ullrich am Sieg bei der 85. Tour de France zu hindern

Berlin (taz) – Die Dopingaffäre um das Festina-Team hat den üblichen Tour-de-France-Enthusiasmus der Franzosen gewaltig gedämpft, und die ersten Bergetappen der diesjährigen Rundfahrt, die am Dienstag über die Pyrenäengipfel Aubisque und Tourmalet, gestern hinauf zum Plateau de Beille (1.747 km) führten, ließen erkennen, daß die Begeisterung wohl auch nicht wiederkehren wird. Ohne groß aus sich herauszugehen, konnte Jan Ullrich auf der 10. Etappe die Führung im Gesamtklassement erobern und diese gestern auch verteidigen, obwohl ihn ein Defekt direkt vor dem letzten Anstieg ans Ende des Feldes zurückwarf und ihm Marco Pantani erneut davonfuhr. Diesmal griff der Italiener, der tags zuvor seinen führenden Landsmann Massi am Col de Peyresourde nicht mehr einholen konnte, früher an und sicherte sich den Etappensieg mit 1:39 Minuten vor dem Tages-Achten Ullrich. Dennoch deutet alles darauf hin, daß der 24jährige Deutsche das Gelbe Trikot diskret und unspektakulär nach Paris transportieren wird.

„Ullrich gewinnt die Tour“, glaubt nicht nur Miguel Induráin, nachdem in den Pyrenäen bloß ein einsamer Pantani dem Vorjahressieger Paroli bieten konnte. Die Mitfavoriten Laurent Jalabert und Abraham Olano, beide durch Stürze auf der Aubisque-Abfahrt beeinträchtigt, vermochten nicht zu folgen, der Spanier mußte gestern sogar aufgeben. Den besten Eindruck machten neben dem starken Fernando Escartin aus Spanien Leute wie Bobby Julich (USA), Michael Boogerd (Niederlande) oder der Italiener Giuseppe di Grande, relative Newcomer ohne ganz große Ambitionen, die hochzufrieden wären, wenn sie sich unter den ersten zehn der Gesamtwertung halten könnten.

Und natürlich Marco Pantani, der Sieger des Giro d'Italia 1998, der mit seinem gewaltigen Antritt am Peyresourde schließlich auch Jan Ullrichs Grenzen aufzeigte und das Kunststück gestern wiederholte, ohne den Rückstand zum Spitzenreiter entscheidend verringern zu können. Der Italiener, der nach dem Gewinn der 11. Etappe nun 3:02 Minuten Rückstand auf Ullrich hat, ist sich seiner eigenen Grenzen wohlbewußt. „Mit zehn Pedaltritten habe ich ihm 40 Sekunden abgenommen“, freute sich der 28jährige am Ende der 10. Etappe, „aber bei 50 Kilometern Zeitfahren nimmt er mir fünf Minuten ab. Wie viele Pedaltritte brauche ich, um das wettzumachen?“ Zudem ist der Kurs der diesjährigen Tour nicht so beschaffen, daß er die Kletterer begünstigt. „Es gibt keine richtigen Berge“, klagt Pantani, der auch nicht darauf hofft, daß Ullrich einen ähnlichen Einbruch erlebt wie Alex Zülle beim Giro, als der Schweizer die Italien-Rundfahrt durch die Schwäche eines Tages gegen Pantani verlor. „Ullrich ist nicht Zülle“, sagt „Il Pirata“, wie ihn Italiens Medien inzwischen wegen seines Kopftuchs nennen, „wir reden von einem, der die Tour schon mal gewonnen hat.“

Besonders beklagenswert findet es Pantani, daß es außer ihm niemanden gibt, der Ullrich überhaupt angreift, so wie es die Festina-Leute im letzten Jahr permanent taten. Damals wunderte sich mancher, wo das Team die Energie für seine permanenten Attacken hernahm. In dieser Hinsicht ist man nun schlauer, auch wenn der Festina-Angestellte Marcel Wüst, der nicht im Tour-Team der Mannschaft stand, gestern im Gespräch mit der Agentur dpa von unerlaubten Mitteln und Doping-Schwarzkassen natürlich nichts wissen wollte. Auf den Punkt brachte die Situation die spanische Zeitung El Pais: „Pantani hat keine Verbündeten und Ullrich keine Feinde“. Unter diesen Umständen dürften sich die Hoffnungen der Organisatoren, daß aus der Tour de Festina endlich wieder die Tour de France wird, kaum erfüllen. Matti Lieske