Zwischen den Rillen: Die tiefen Schatten des Drum 'n' Bass
■ Weltall, Science-fiction und all die Dinge: Nachdem Goldie gescheitert und Roni Size in gediegenen Jazzpop abgedriftet ist, bleiben nur 4 Hero auf „Two Pages“ ihrer Zeit noch voraus
Von ihnen hatte man es eigentlich am ehesten erwartet, den großen Wurf, die Platte mit allem Drum und Dran, das Album jenseits von Sparten, Gattungen und Genres. Nach Goldies grandios mißlungenem „Saturn Returnz“, nach Roni Sizes erfolgreichem, künstlerisch teilweise zweifelhaften Sprung ins Capuccino-Lager mit Reprazent liegt jetzt mit „Two Pages“ von 4 Hero der dritte Versuch vor, der Drum 'n' Bass aus kreativen und sozialen Fesseln lösen soll. Auf lange Zeit wird in dieser Hinsicht nichts mehr kommen – weil er gelungen ist.
Mark Clair und Dego McFarlane haben ihre musikalische Aktivität so weit aufgefächert, daß sie locker für mehr als zwei Leben reichen würde. Allein dem Namen nach zu urteilen, kann man ihr Projekt 4 Hero also als Zentrum ihres Schaffens betrachten. 1995, als Drum 'n' Bass nur bei regelmäßigen Londonfahrern eine Vorstellung einer neuen musikalischen Richtung hervorrief, veröffentlichten sie mit „Parallel Universe“ ein Album, das man zu den drei besten D&B-Langspielplatten zählen kann. Und das zu einer Zeit, in der die Etablierung des Genres in Clubs, im Underground und in der Fachpresse über die Flut von Vinyl-Maxis noch bevorstand.
Wie sicher sich die beiden Londoner Produzenten dieser Errungenschaft sind, zeigen sie, indem sie das Stück „Universal Love“, damals als Single veröffentlicht, auf „Two Pages“ noch einmal plazieren. Bei diesem Stück arbeiteten sie schon wie selbstverständlich mit der Sängerin Carol Crosby und einem Saxophonisten zusammen. Allein von diesem ganz konkreten Punkt aus und dem hier ganz unpathetisch gemeinten Vor-ihrer-Zeit-Sein wird ihre Vorliebe für futuristische Themen, Science-fiction-Philosophie und Weltall-Metaphern schlüssig. Sie waren immer schon irgendwo ganz weit draußen und sind mit „Two Pages“ im Hier und Jetzt gelandet, Nahrung für die nächsten Jahre im Gepäck.
Daß Clair/McFarlane sich über die Jahre in Projekte wie Jacob's Optical Stairway, Tom & Jerry, Tek 9 oder NuEra aufspalten und trotzdem eine Integrität bewahren konnten, die ihnen als Personen gutgeschrieben wurde, liegt in ihrer langen Verwurzelung im Underground. Mit ihrem Label Reinforced haben sie dort den Boden für den spektakulären Aufstieg von Drum 'n' Bass bereitet.
Nicht nur daß sie Goldies Debüt ermöglichten, ist in ihrem Lebenslauf verzeichnet, sondern insbesondere die Tatsache, daß sie sich nie auf die gerne gezogene Grenze zwischen Techno und D & B eingelassen haben. Die von ihnen zusammengestellte zweiteilige Compilation „Deeper Shades Of Techno“ ist nicht nur an sich ein hervorragender Überblick; sie ist gleichzeitig ein Statement pro Geschichtsbewußtsein. Denn sie lassen keines ihrer DJ- Sets aus, um auf die Bedeutung des in Detroit geschaffenen Techno-Sounds für die heutige elektronische Musik hinzuweisen.
So versteckt sich Clair/McFarlane immer in ihrem Studio im Londoner Stadtteil Dollis Hill hielten, so wirkungsmächtg war ihr Output. Es gibt niemanden in der D&B-Szene, auf dessen Wort mehr gehört würde. Und das ist ein weiteres Phänomen, das bei Techno und D & B gleichermaßen zu beobachten ist. So quirlig und unüberschaubar nach wie vor die Produzenten- und Labellandschaft ist, so klar haben sich einige wenige Figuren über den Rest erhoben. Sind es im Techno Leute wie Richie Hawtin, Jeff Mills oder Juan Atkins, deren Platten seit über zehn Jahren immer einen besonderen Stellenwert haben, sind es im D & B eben jene drei Acts, die mit ihren aktuellen Alben in neue Bereiche vorgestoßen sind und seit Jahren unangefochten an der Spitze der Aufmerksamkeitsskala stehen: 4 Hero, Goldie, Roni Size/DJ Krust. Da können die Doc Scotts, Andy Cs, Boymerangs und Photeks noch so viele Platten machen – es scheint, daß sie immer nur zusammen im Hauptfeld einlaufen, während die Spitze schon auf dem Massagetisch liegt.
Mit „Two Pages“ unterstreichen 4 Hero, daß sie dort hingehören. Man sollte sich in jedem Fall die vollständige Version besorgen, die aus zwei CDs besteht; eine weitere Fassung vermischt die beiden komplementären Seiten dieser Platte – eine nicht nachvollziehbare Marketingstrategie. „Page One“ ist ein orchestrales Wunder, in dem Soul, Streicherarrangements aus seligen Chess- Zeiten, inspirierte Instrumentalisten, Sängerinnen und Rapper zu einem irrwitzigen Ideenwerk zusammenfinden.
Es waren zuletzt Steely Dan, die derart halsbrecherische Akkordprogressionen als „natürlichen“ Bestandteil von Popmusik verkaufen konnten. „Page Two“ zeigt die technologische Ebene. Sie bietet einen Blick in die Werkstatt, wo Drumpattern, Rhythmusfiguren und Beattexturen kreiert werden. Diese Tracks scheinen bei aller Hingabe ans fricklige Detail locker hingeworfen, hingezaubert von Leuten, die ihre Kraft aus etwas schöpfen, von dem Normalsterbliche keinen Begriff haben. In zwei Jahren wird man sich auf „Two Pages“ als die Platte der neunziger Jahre einigen. Martin Pesch
4 Hero: „Two Pages“ (Talkin' Loud/ElektroMotor)
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