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Kabul – eine Millionenstadt, die schweigt

In der afghanischen Hauptstadt haben die radikalislamistischen Taliban alles verbannt, was normalerweise städtisches Leben ausmacht. Die Hälfte der Bevölkerung lebte bisher von internationalen Hilfsorganisationen  ■ Aus Kabul Bernard Imhasly

Das Intercontinental Hotel, der frühere Touristenpalast, liegt pittoresk in einer Mulde des Hügelzugs, der die afghanische Hauptstadt durchtrennt. Die beiden Fassaden erzählen die Geschichte Kabuls: Nach Norden hin sind die Zimmer unversehrt, nach Westen hin sind viele Fenster mit Plastikbahnen zugedeckt, die Balkone zerschossen. Die beiden Stadtteile spiegeln dieses Schicksal wieder, tausendfach vergrößert. Von den Häusern im Westen stehen nur noch die Fassaden, und die Strassenzüge sind vermint. Die Neustadt im Norden dagegen war 1994/95 durch den Hügelzug von den erbarmungslosen Artilleriefeuern aus dem Bergkranz im Westen und Süden geschützt worden.

In der Nacht zeigt der Blick auf die Stadt, daß die Unterschiede nicht so groß sind. Während der Westen in der Dunkelheit versinkt, blinken im Norden die Lichter der Millionenstadt. Doch sie täuschen nur Großstadt vor. Die Geräusche, die heraufdringen, sind die eines Dorfs: Ein paar Hunde schlagen an, Kindergeschrei, das gelegentliche Rumpeln eines Busses über eine zerlöcherte Straße, hier und da das Dröhnen eines Propellerflugzeugs. Sonst ist es still. Eine Millionenstadt, die schweigt. Wie könnte es anders sein: Die Hälfte der Bevölkerung wird, will sie nicht hungern, von den internationalen Hilfsorganisationen ernährt. Daher wird die Einstellung der EU-Hilfe und der Abzug der Hilfsorganisationen ernste Folgen haben. Kabul ist eine Millionenstadt ohne Arbeit, ohne Kinos, ohne Museum, ohne Fernsehantennen, ohne Verkehrsstaus. Die Polizisten winken mit der Kelle ins Leere, und zwischendrin hat einer Zeit, mit einer Blechbüchse die einsame Geranie mitten im Kreisel zu begießen. Es ist eine Stadt ohne Frauengesichter, ohne Frauenkörper. Der plissierte Umhang der Burqa ist so leicht, daß er sich beim Gehen aufbauscht und jede Andeutung der Gliedmaßen vermeidet.

Aber zumindest sind die Tuchwolken wieder Teil des Straßenbilds. Vor einem Jahr sah man sie nur hastig vorbeihuschen. Nun stehen sie manchmal herum, schwatzen mit Freundinnen, und bei einigen wirken die eleganten Stöckelschuhe wie eine Herausforderung an die Negation der Weiblichkeit durch die Taliban, jene radikale Islamistentruppe, die Kabul Ende September 1996 erbobert hat und die Stadt seither mit einer Mischung aus Stammestraditionen und Religion regiert.

Sind die Schuhe Symbole stillen Protests, oder ist ihre aufreizende Wirkung einfach die Folge des Kahlschlags von Bildern? Kabul ist eine Stadt ohne Bilder. Jedes Fotografieren eines Lebewesens ist verboten. Das Auftauchen einer Kamera ist eine Provokation. Als der Fotograf ein Bild aus dem fahrenden Auto schießt, wird dieses sofort durch zwei Taliban auf einem Motorrrad zum Halten gebracht. Kurz darauf hält ein Hilux-Geländewagen – er ist das Statussymbol der Taliban –, und ein bärtiger junger Mann zeichnet energisch ein X in die Luft: Fotografieren verboten.

Das bezieht sich nicht nur auf Menschen, nein, auch Tiere dürfen nicht abgelichtet werden. Sie sind ohnehin selten, der Krieg scheint auch sie vertrieben zu haben. Selbst im einmal berühmten städtischen Zoo hausen gerade noch zwölf Tiere, und wenn man den Zustand der Käfige sieht, bedauert man die Überlebenden.

„Ah, die Frauen! Laß uns über die Frauen sprechen!“ Jedes Gespräch in Kabul landet irgendwann einmal bei der würdelosen Behandlung der Frauen in Afghanistan, selbst bei einer Konversation im Bergbauministerium und selbst wenn der Gesprächspartner Herr Zaman heißt. Der Berater des Ministers für Bergbau und Industrie sieht nicht aus wie ein Taliban.

Es ist ein schüchterner älterer Mann, der sich in dieses von staubigen Möbeln umstellte Büro verirrt zu haben schien. Sein elegantes Französisch wirkt darin wie ein anachronistischer Schnörkel – und das soll es wohl auch sein. Er ist kein Teil der Chronik von Eroberung und Unterdrückung, sein Französisch stammt aus besseren Zeiten. Zaman verteidigt die Taliban nicht grundsätzlich, er ereifert sich aber über die falschen Prioritäten des Westens.

„Wir hatten zwanzig Jahre Krieg, unser Land ist zerstört, liegt am Boden. Die erste Priorität ist doch, dem Volk wieder Sicherheit zu geben. Und diese haben die Taliban gebracht. Wenn es ums Überleben geht, sind Menschenrechte ein Luxus.“ Zaman sieht in der Abschottung der Frauen vor der Öffentlichkeit nicht mehr als eine notwendige Phase in der sozialen Evolution und schüttelt den Kopf über die Ungeduld Europas. Afghanistan sei in vielem noch ein mittelalterliches Land.

Die Modernisierung unter König Zahir Shah habe in Wahrheit nur die Städte berührt. „In den Dörfern sahen Sie nie Frauen auf den Straßen, keine Mädchen in den Schulen.“ Die Taliban haben das Dorf in die Stadt gebracht. Was in den Dörfern eine selbstverständliche soziale Norm ist, muß in Kabul mit Gewalt durchgesetzt werden. Im UNO-Klub bestätigt uns später eine französische UNO- Vertreterin Zamans Behauptung. „Wenn die Frauen die Wahl haben zwischen Hausarrest und Überleben, was gibt es da noch zu wählen?“

Der UNO-Klub ist der einzige Ort in der Stadt, in der Alkohol serviert wird – Afghanen haben daher keinen Zutritt. Drei Stunden vor dem Beginn des Ausgehverbots um 21 Uhr treffen sich dort die „Expats“, die Mitglieder der Hilfsorganisationen, die dazu beitragen, daß die Stadt weiterlebt. Jack, der Vertreter des englischen Halo- Trusts, hat soeben die Ausbildung von Freiwilligen zur Entminung der Weststadt beendet. Er erzählt von den Kindern, welche die Spezialisten umringen, wenn sie auf dem Boden herumstochern. „In den meisten Fällen kommen nur Metallteile von Geschossen zum Vorschein – die Kinder stürzen sich darauf und sammeln sie in Säcken, um sie als Altmetall zu verkaufen. Es ist hochgefährlich. Viele Kinder sind umgekommen, weil sie dabei zufällig auf eine Mine traten.“

Ein Vertreter des amerikanischen Catholic Relief Service (CRS) erwähnt die Schwierigkeiten, die er hat, um mit der kürzlichen Fatwa der Taliban fertig zu werden, die jedes Projekt verbietet, das Frauen aktiv einbezieht. In Kabul ist es sehr schwierig, sagt er, aber in der Provinz Paktia südlich der Hauptstadt hat er mehr Erfolg: CRS hat sich die Unterstützung des Dorf-Mullahs gesichert und genießt damit Schutz vor den Scharfmachern.

Der Freitag ist der Ruhe- und Gebetstag der Muslime. In Kabul ist es auch der Tag, an dem der religiöse Scharfrichter im Fußballstadion seine Urteile vollziehen läßt. Wie üblich hört man davon in Kabul nur gerüchteweise und meist hinterher. Ismael, ein afghanischer Journalist, der für die britische Rundfunkanstalt BBC arbeitet, erzählt, gestern sei ein Taliban verurteilt worden. Er habe im Tagab-Tal einen Bus überfallen und drei Passagieren 17 Millionen Afghanis – rund 500 Dollar – abgenommen. Die Strafe war hart, weil der Räuber ein Gotteskrieger war: Abhacken der rechten Hand und des linken Fußes.

„Scharfrichter“, „Abhacken“ – emotionsgeladene Vokabeln, Wertungen hinter der Deckung einer nüchternen Meldung. Man könnte auch von einer „operativen Entfernung“ sprechen – und es wäre sogar präziser. Denn der Verurteilte wurde auf dem Fußballfeld vollständig eingeschläfert, und vier Ärzte trennten ihm nach allen Regeln der Kunst die beiden Gliedmaßen ab. Darauf wurde er ins Spital überführt, wo er behandelt wird, als wäre er ein Patient, dem eine Mine den Fuß weggerissen hat. Sobald er sich gesund fühlt, kann er als freier Mann nach Hause gehen.

Dennoch ist es ein barbarisches Abhacken: Ein Mensch wird für einen Geldraub bestraft, indem man ihn eines Teils seines Körpers beraubt, und für den Rest seines Lebens wird er ein physisch Behinderter, schlimmer noch: ein sozial Gezeichneter bleiben. Die Gliedmaßen, an Stöcken baumelnd, werden aus dem fahrenden Auto im Stadionrund zur Schau gestellt.

Die Ärzte schienen das Dilemma augenfällig zu machen, sagt Ismael. Sie hätten bei der Operation Masken getragen. „Vielleicht war es wegen der medizinischen Hygiene, vielleicht verhüllten sie ihr Gesicht, weil sie sich schämten.“

Am Vormittag erschüttern kurz hintereinander drei Beben die Stadt. Das erste ist besonders heftig und läßt die Teegläser in ihren Untersätzen scheppern. Die Beamten im Innenministerium, die eben noch lethargisch ihre Einträge gemacht hatten, huschen im Nu ins Freie, noch bevor die Besucher recht wissen, was passiert ist. Man weiß nie, wie lange die von den Bomben beschädigten Gebäude standhalten.

Draußen im Garten beginnt eine Diskussion, ob es ein Erdbeben oder ein Granateinschlag war. Die Meinungen sind geteilt – schließlich werden die Afghanen von beiden Arten von Katastrophen, den natürlichen wie den menschengemachten, heimgesucht. Die Kriegsfront verläuft nur 25 Kilometer nördlich der Stadt, und der Flughafen wird regelmäßig unter Beschuß genommen.

Selbst im Hauptquartier des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) ist man sich nicht einig. Der Pressesprecher spricht kategorisch von drei Bomben, und rasende Geländwagen in den Straßen der Hauptstadt scheinen ihm recht zu geben. Am Abend im UNO-Klub einigen sich die Spezialisten dann auf ein Erdbeben – genauso stark, meint ein schwedischer IKRK-Mitarbeiter, wie jenes am 30. Mai dieses Jahres, als im Norden des Landes mehrere tausend Menschen starben.

110 Angestellte hat das Hotel Intercontinental noch, darunter Gul Mohammed, den es freut, wenn man ihn Marco Polo nennt. So hieß er, als er vor zwanzig Jahren noch ein stolzer Maitre in der „Bamiyan Brasserie“ war. Heute kann er neben seinen zwei Gästen nur noch die Taliban bedienen, von denen mehrmals täglich eine Gruppe durchs Hotel schlendert und im Coffee Shop grünen Tee trinkt. Sie sind höflich, und wenn man ihnen zu nahe tritt, riskiert man, daß man von allen lange die Hand geschüttelt bekommt. Sie zahlen auch für den Tee.

Vielleicht wären sie weniger freundlich, wenn sie in der muffigen Leere des Hotelfoyers die Aushänge von Intourist lesen könnten. „Welcome to...“ heißt es in einer Vitrine, und die Holzbuchstaben „USSR“ liegen verstaubt am Boden. Und bestimmt würden sie hellhörig, wenn sie Marco Polo verstehen würden, als er uns zuflüstert, daß im Keller des Hotels noch Tausende Flaschen von feinstem französischem Wein und viele Delikatessen versteckt liegen. Glaubt er, daß die Zeit noch kommen wird, wo sich das Verlies wieder öffnen wird? „Insh'Allah“, antwortet er lächelnd.

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