■ Vorlauf: Ohne Guru und Geheule
„USA – Leben und Sterben der Heaven's-Gate-Sekte“, 20.45 Uhr, Arte
„Hallo, ich möchte einen anonymen Hinweis geben“, sagt eine Stimme am Telefon. – „Worum geht es?“ – „Um einen Massenselbstmord.“ Die Kamera wandert langsam durch ein leeres Haus, zu hören ist ein von leichtem Wind bewegtes Glockenspiel – nicht unheimlich, aber geheimnisvoll.
So eröffnet Rachel Coughlan ihren Film zur Geschichte der Heaven's-Gate-Sekte bis 1997, als sich in jenem Haus in San Diego 39 Menschen umbrachten. Als eine Art öffentliches Vermächtnis hinterließ die Sekte Videos, in denen Chef Do predigt und seine Jünger Abschiedsstatements abgeben. Coughlan nutzt dieses Material, gibt ihm aber kein Übergewicht. Da sind etwa die Interviews mit Aussteigern: ein bodenständig wirkender Mann, der die Sekte heute für verrückt hält, mit ihrem Sexverbot und den Vorschriften fürs Pfannkuchenbacken. Andere Aussteiger sind dagegen noch heute fasziniert. Und da sind die Angehörigen. Hier wird zu Recht auf die üblichen hysterischen Heulszenen verzichtet; viel aussagekräftiger ist ein Video, das die Familie von Heaven's-Gate-Jünger David noch von einem Besuch des Sohnes hat. Oder das Tonband vom einzigen Anruf Gails bei ihrer Familie.
Keine heulenden Eltern also, keine Zuspitzung auf den bösen Guru, der alle ausbeutet, und kein drohender Off-Kommentar in einem Film, der auf das tödliche Ende zutreibt. So schafft es Coughlan, daß man sich zwischendurch fragt, ob Do nicht recht hat, wenn er sagt: „Eltern sind nicht die Eigentümer ihrer Kinder.“ Schließlich erklärt auch Davids Mutter, ihr Sohn habe als Erwachsener „so gelebt, wie er wollte“. Oder ist es doch „ein Selbstmord und 38 Morde“, wie Gails Eltern meinen?
Der Film läßt die Entscheidung offen – bis zuletzt. Denn am Schluß sehen wir Gail, wie sie vor ihrem Tod ihr Statement abgibt. Mit einer geckenhaften Kurzhaarfrisur sitzt sie auf einem Plastikstuhl und lächelt verlegen. Und dann folgt ein ganz anderes Bild aus einem Familienvideo von früher. Da lacht sie, wirbelt herum in ihrem grünen Kleid, und die schwarzen Locken fliegen. löw
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