Dieser Druck im Magen

Drei HamburgerInnen, die schon in der Schule das Schwänzen geübt haben, sind heute politisch korrekte Profis im Blaumachen  ■ Von Heike Dierbach

„Sag', Genosse Sonne, meinst nicht auch du, man sollte sich verdammt bedenken, einen solchen Tag dem Chef zu schenken?“ Die Zeilen aus dem Gedicht „Verlorene Zeit“ von Jacques Prévert treffen für Martin, Corinna und Andreas (alle Namen geändert) nur bedingt zu. Denn sie müssen meist nicht lange überlegen, wie man einen Montagmorgen am besten nutzt, wenn die Sonne durchs Fenster flutet und die Matratze einen so gar nicht loslassen möchte.

„Am besten ruft man direkt nach dem Aufstehen in der Firma an“, fachsimpelt Andreas, der als Bauzeichner arbeitet, „dann klingt die Stimme noch etwas heiser.“ Corinna ergänzt: „Der Effekt läßt sich auch durch Treppensteigen erreichen.“

Mit dem Schwänzen haben die drei FreundInnen bereits in der Schule angefangen. „Ich hab' mir damals extra von meiner Mutter etwas in Poesiealbum schreiben lassen, damit ich ihre Schrift kopieren konnte“, erzählt Corinna. Jahre später entdeckte die Mutter mit leichtem Befremden die Schreiben, die erklären, daß ihre Tochter „leider nicht kommen kann, weil ihr Opa beerdigt wird“. Heute schickt Corinna meistens ihren Freund Andreas vor, um sie in dem Supermarkt, wo sie an der Kasse jobbt, abzumelden. Der Profi macht sich vor dem Telefonat Notizen. Für die Performance benötigt er dann absolute Ruhe und Ungestörtheit, nach dem Motto: „Wenn ich die Tür zumache, sieht's auch der liebe Gott nicht.“

Martin sieht das Blaumachen systemisch: „Wir holen uns einen Teil des Mehrwerts von den Unternehmern zurück. Von Schädigen kann keine Rede sein.“ Den 27jährigen Soziologie-Studenten, der schon über 30 verschiedene Jobs hatte, schreckt auch kein Arztbesuch: Er hat sich das Buch „Wege zu Wissen und Wohlstand“ zugelegt. Das Werk wurde bereits kurz nach seinem Erscheinen beschlagnahmt, „weil es zu strafbaren Handlungen auffordert“ – es verrät, welche Krankheiten Ärzte nur über Symptombeschreibungen des Patienten diagnostizieren können.

Für Anfänger eignet sich zum Beispiel eine Magenschleimhautentzündung – die bringt zwei bis vier Wochen. Dem Patienten ist übel, er hat diesen „dauernden Druck in der Magengegend“ oder wahlweise einen „an- und abschwellenden Schmerz“. Martin hat sich die Seite per Lesezeichen markiert. „Rippenfellentzündung hatte ich auch oft“, lacht er, „zum Beispiel, wenn ich einen Urlaub geplant hatte.“ Notfalls meldet er sich auch von unterwegs krank, „aber da muß man aufpassen, daß nicht im Hintergrund Französisch gesprochen wird.“

Brenzlig seien seine Extra-Urlaube noch nie geworden. „Bloß übereifrige Kollegen haben mal angerufen. Das nervt.“ Wenn diese aber die Arbeit miterledigen müssen? „Das müßten sie ja auch, wenn ich wirklich krank wäre – und das werde ich, wenn ich mir nicht freinehme“, ist Martin überzeugt. Den kausalen Zusammenhang zwischen Arbeit und Krankheit zu erkennen und vorbeugend den gelben Schein auszustellen – „das zeugt von ärztlicher Weisheit“.

Allerdings schwänzen die drei FreundInnen nur politisch korrekt – „in ausbeutenden Arbeitsverhältnissen“. Martin zum Beispiel hat sich schon seit zehn Monaten keinen gelben Schein mehr geholt – er arbeitet gerade als persönlicher Assistent bei einem Rollstuhlfahrer. Corinna und Andreas vervollkommnen derweil emsig ihre schauspielerischen Fähigkeiten – mit wachsendem Erfolg.

„Vorige Woche hab' ich mich am Dienstag mit Erkältung krankgemeldet, weil ich nach Schweden fahren wollte“, erzählt Andreas, „als ich zurückkam, war mein Chef auch krank und ziemlich sauer auf mich. Er hat behauptet, ich hätte ihn angesteckt.“