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Ein Sattel in Venezuela

Ansichten eines Radlers links und rechts des Orinoco: Der Ruf nach Musik im Schatten des Weltgeschehens  ■ Von Jo Stock

In Bill Forsyths Filmkomödie „Gregory's Girl“ machen sich zwei schottische Teenager auf die Suche nach der Frau fürs Leben. „Caracas“ steht auf dem Pappschild, mit dem sie vom schottischen Straßenrand weg nach Venezuela trampen wollen. Ein guter Grund für mich, auch hinzufahren.

Keine ausreichende Information allerdings, um mit dem Rad in zwei Monaten 3.000 Kilometer durch das Land zwischen Anden und Karibik, Orinoco und Atlantik zu fahren. Am Rhein entstandene und am Reißbrett entworfene Tourenpläne zu beiden Ufern des Orinoco erweisen sich schon nach der Ankunft als unbrauchbar. Die mit 30 Grad für Dezember ungewohnt hohe Temperatur und die steilen Anstiege in das Küstengebirge rund um Caracas machen eine aktuelle und angepaßte Überarbeitung des Reiseplans notwendig. „Step by step“ lautet das Motto der ersten Tagestouren in einem Land, in dem man durch Planen allein nicht ans Ziel kommt.

Serpentinen und dicht an mir vorbeidrängenden, „leicht entflammbare“ Tanklastzüge auf der Küstenroute von Caracas nach Cumana. In meinem Kopf finden sich fast vergessene Bilder des 1952 in Südamerika gedrehten Films „Lohn der Angst“ von Henri-Georges Clouzot. Lkw-Fahrer transportieren explosives Nitroglyzerin zu einem zu sprengenden brennenden Ölbohrloch. Das Ganze endet mit einigen Toten. Bis zu 3.000 Meter tiefe Ölbohrlöcher werde ich selbst noch viele sehen auf der Reise, explodierendes Nitroglyzerin hoffentlich nicht.

Die Lkw-Fahrer im Film fahren nachts, ich tags. In Venezuela heißt das Sommer wie Winter Sonnenauf- und -untergang morgens und abends halb sieben. Gleich zu Anfang macht sich meine treueste Reisebegleiterin bemerkbar, die mir bis zum Tag meiner Abreise nicht mehr von der Seite weichen wird: die Musik.

Ob aus der armseligsten Hütte, aus vorbeifahrenden Autos, in Linienbussen und selbst am Bankschalter – überall Musik, Musik, Musik. Und sollte sie versehentlich an einem Ort nicht ertönen, läßt der Ruf danach nicht lange auf sich warten. Die Töne der Guaracha (Salsa) und Merengue wirken in Rhythmus, Dynamik und Tempo auf Körper und Seele, vermeiden Streß und Aggression.

Und eine weitere angenehme Überraschung hält das Land für den des Biertrinkens mächtigen Rheinländer bereit: das unter tschechischer Leitung gebraute, einheimische Bier. Serviert wird das exzellente und eiskalt getrunkene Pils wahlweise in der Pfandflasche oder Dose, deren Verschluß durch eine dicke Eisschicht oft nur schwer zu erreichen ist. Doch das Bier scheidet in Venezuela die Menschen. Während an der Karibikküste schon nach dem Aufwachen zur Flasche gegriffen wird, ist es in den Andendörfern schwierig, überhaupt ein Restaurant mit Alkoholausschank zu finden. Es existiert ein Nord-Süd-Gefälle. Auf dem Weg von der Hafenstadt Puerto La Cruz an der Karibik hin zum Orinoco bei Puerto Ordaz nehmen Alkoholkonsum und Hektik ab, die Bäuche zu, die Oberlippenbärte sprießen und die Menschen werden ruhiger und freundlicher.

Nach den ersten schweißtreibenden 1.200 Kilometern am südlichen Orinoco-Ufer erstmals fußballspielende Venezolaner – in einem Land, wo Baseball Volkssport Nummer eins ist. Im Fußball reicht es an sich nur zum Kanonenfutter der umliegenden Staaten. Aber Länder ohne Fußball gibt es wohl nicht, zumal in Südamerika.

Auf den endlos geraden und von Cowboys und Rinderherden gesäumten Straßen Richtung Süden geht mein Blick immer wieder gen Himmel, auf der Suche nach einer mit dem Passatwind ziehenden Wolke, und dem Versuch, in ihrem Schatten einige hundert Meter mitzufahren. Tropfsteinähnliche Salzkristalle bilden sich unterhalb der Rahmenstange meines Fahrrads, und dafür müssen schon bis zu 6 Liter Flüssigkeit durch den Körper wandern. Bei permanentem Sonnenschein und überhöhter Asphalttemperatur ist es schwer, nicht so einzutrocknen, wie Hunderte von übel riechenden Hundekadavern, die die Teerdecke pflastern. Hohe Hundesterberate und ordentliche Straßenqualität beruhen auf venezolanischer Transport- und Verkehrspolitik. Die Straße ist mangels eines Schienennetzes Transportweg Nummer eins. Der Mensch bewegt sich im gut funktionierenden und preiswerten, weil staatlich subventionierten Busnetz. Große Trucks verteilen im weiten Land lebensnotwendiges Gut, das heißt Sprit, Bier und das Grundnahrungsmittel Huhn.

Benzin in Venezuela ist das günstigste der Erde, und so beherrschen große, meist abgewrackte amerikanische Straßenkreuzer das Straßenbild. Doch der Trend geht weg von umweltbelastender Schönheit hin zu gesichtsloser Vernunft, zur sparsamen, kleineren, asiatischen Familienlimousine. Darin begegnen mir schon brasilianische Familien auf der erst vor 15 Jahren von der Goldgräberstadt El Dorado aus geteerten und ins brasilianische Boa Vista führenden Nationalstraße 10. Und im weitläufigen Hochplateau der Gran Sabana zwischen herausragenden, monumentalen Tafelbergen sitzen die portugiesisch sprechenden Landesnachbarn in kleinen und weit voneinander entfernt liegenden Restaurants genauso sprachlos vor der Speisekarte wie ich. „Venezuela – das bestgehütete Geheimnis der Karibik“ heißt es in deutschen Lettern auf großen Touristikplakaten, verteilt über das ganze lateinamerikanische Land.

Sicher, hier entlockt man auf die Schnelle kein Geheimnis, und doch werden es in absehbarer Zukunft mehr und mehr westliche Touristen probieren. Die spanische Landessprache erleichtert den Einstieg ins Land. Die Baukonjunktur boomt, und das nicht nur auf Isla de Margaritha. Doch hier gilt: „Dritte-Welt-Land“ nicht gleich „Billig-Land“. Auf drei Viertel des deutschen Preisniveaus muß sich der einreisende Gast schon einstellen. Wie der kleinverdienende Venezolaner damit zurechtkommt, bleibt nur eins von vielen Rätseln.

Als Tourist gilt der Deutsche als seriös, finanzstark und umweltbewußt. Sollte er sich aber nicht offensichtlich als Pauschaltourist zu erkennen geben, wird er speziell auf der Touristeninsel Margaritha mißtrauisch beäugt. Nicht selten sind Deutsche federführend im Drogenexport und bei der drogenverachtenden venezolanischen Bevölkerung unbeliebt. Wer es jedoch schafft, sich zwischen diesen beiden Spezies zu bewegen, den können Offenheit, echtes Interesse und auch Spaß erwarten.

Ich oute mich als mit gepäckbeladener Radfahrer schon auf Sichtweite entfernt als „Aleman“ und genieße die unentwegten, lautstarken Anfeuerungen der Autofahrer und der venezolanischen Bevölkerung am Wegesrand. Ein Volk, das abseits von Hahnenkampf, Hunderennen und Pferdewetten nur noch als Fernsehsportler in Erscheinung tritt. Nie sah ich auch nur einen Venezolaner laufen. „Es ist wie es ist“, scheint mir venezolanisches Motto zu sein. Die, die Geld haben, werfen zu meiner Linken ihre Getränkebüchsen während der Autofahrt aus dem Fenster, und die, die nichts haben, ziehen gleichzeitig durch die Straßengräben und lesen die Aludosen für Pfennigbruchteile in ihre Plastiksäcke auf. Trotz den scharfen sozialen Kontrasten haben diese und viele andere Bilder für den Beobachter eine eigene Romantik.

Doch gibt es eine, tagsüber nicht zu erlebende, aber doch präsente Kehrseite der Medaille. Nicht nur wichtige Straßenpunkte und Banken, sondern auch Supermärkte, Tankstellen und private Firmengelände werden rund um die Uhr von staatlichen und privaten Sicherheitsdiensten bewacht. Der Beruf des Wachmanns ist stark verbreitet. Wachmänner sind anerkannt und vor allem besser bezahlt als einfache Polizisten.

Daß man als Fremder den im Zentrum jedes noch so kleinen Ortes zu findenden, rechtwinkligen Plaza Bolivar nicht falsch betritt, d.h. in Shorts oder gar mit dem Rad, darüber wacht die Bevölkerung selbst. Die Verehrung für ihren Nationalhelden und Befreiungskämpfer Simon Bolivar (1783–1830) ist grenzenlos, und Tausende über das ganze Land verteilte Büsten und Denkmäler sind mit denen Lenins in der ehemaligen UdSSR vergleichbar.

In Venezuela wird kein Englisch gelehrt, und ich treffe immer wieder Jungen, die erkannt haben, welch großen Vorteil sie sich für die Zukunft mit der Aneignung dieser Sprache verschaffen. Wer nicht das Glück eines Auslandsaufenthaltes hatte oder studiert, der schaut eben den Touristen aufs Maul und bringt sich damit im erklecklichen Touristikgeschäft in die Poolposition.

„Kennt ihr unser Land?“ und „Was weiß man über uns?“ sind Fragen, welche die Schnittstelle zwischen venezolanischem und westlichem Gedankengut bilden. Die Befürchtung um die eigene Bedeutungslosigkeit im täglichen Weltgeschehen und die Verständnislosigkeit für das Desinteresse der westlichen Medien am südamerikanischen Kontinent führen leicht zur Verlegenheit. Nach eigenen Angaben ist Südamerika bekannt durch Tango aus Argentinien, Fußball aus Brasilien, Kaffee aus Kolumbien, Inkakultur aus Peru und den Schönheitsköniginnen aus Venezuela. Von unregelmäßigen Klimakonferenzen abgesehen, ist dies zu wenig, um regelmäßig auf den Titelseiten der Tageszeitungen zu erscheinen.

Wer aber statt der Medien den eigenen Erfahrung vertraut, der erlebt, was auch mir die Tour unvergeßlich gemacht hat: Musik, Musik, Musik.

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