piwik no script img

Wo die Schöpfung unvollendet ist

■ Nur von der Pferdekutsche läßt sich die Schönheit des Oldenburgischen Münsterlandes erleben / Eine Hetzschrift gegen Schopenhauer, den Lügner

„Die unübersehbare schwarze Heide befindet sich in demselben Zustand wie zur Zeit des Chaos“, notierte Schopenhauer, als er sich einmal in die Gegend von Cloppenburg verirrte. Verirrte? Ganz freiwillig kann er nicht dorthin gekommen sein, denn voller Haß geht es weiter im Text: „Das Essen ist eine Zumutung, die Dörfer sind schmutzig, Bettelvolk kommt gelaufen. Der Himmel ist grau – es regnet unablässig. Die Wege sind morastig, so daß der Postillion neben der Kutsche laufen muß. Wir sind froh, diese wüste und menschenleere Gegend wieder zu verlassen ...“ Das war am 6. März 1803.

Heute bemüht sich der „Verbund Oldenburger Münsterland“ nach Kräften, Schopenhauer als Lügner zu überführen: Der Verbund lädt Journalisten – und, vermittelt über die gute Presse, das ganze Volk der Region ein, die anmutige Heidegegend zu erkunden. „Treffen beim Spieker am Dwergter Meer“ lautete die knappe Bezeichnung des Ausgangspunktes einer dieser Fahrten. Ein Meer hier? Eine alte Pferdetränke! Die Kutschfahrt sollte zur „Thülsfelder Talsperre“ gehen. Auch eine Talsperre gibt es natürlich nicht in dem flachen Cloppenburger Land, sondern nur einen aufgestauten Regenrückhalte-See. Was liegt näher als eine Rast bei selbstgebackenem Kuchen im „Strandhotel Dittrich“, von dessen Sonnenterasse aus erwartungsgemäß kein Strand in Sicht ist?

Ein geheimnisvolles Land ist dieses „Oldenburger Münsterland“, der Tourismus-Katalog hat die Autobahn A 1 als durchgehendes optisches Symbol gewählt: Vom Hindurchrasen kennen viele das Land. Also kennen sie es nicht, nicht das Cloppenburger Museumsdorf, nicht den Tierpark Thüle, nicht den Heidesee bei Holdorf. Die wahren Geheimnisse der Gegend erschließen sich aber erst, wo eine anderthalbstündige Kutschfahrt langweilig zu werden droht und aus der Langeweile die tiefsten Begegnungen mit der Landschaft wachsen.

„Die Schöpfung scheint hier noch unvollendet zu sein“, schrieb der Besucher Hoche um 1800 auf. Wer sich einer der Gästeführerinnen anvertraut, der wird ein Stück Schöpfungsgeschichte aus erster Hand erfahren. Einen zusätzlichen „Dwergter Feiertag“ gibt es heute noch, hier wird auch dem Wotan noch geopfert („Peiter Bult“), und in der Nähe des Halener Badessees liegen übrigens auch die Drantumer Desumssteine, eherne Zeichen einer germanischen Gerichtsbarkeit, und der Krattwald, ein Urwald auf 2.000 Hektar.

Nirgends in Germanien, scheint es, ist Amerika so fern wie hier. Und doch: Mitten im Garreler Land gibt es wirklich ein „Amerika“ auf der Landkarte, eine alleliebstes Örtchen. Wieso ausgerechnet Amerika? Der Weg durch die sumpfige und morrige Umgebung war so beschwerlich, daß die Leute das Örtchen in aller Unschuld eben so tauften.

Eigentlich lernt man das Land nur mit dem Spaten in der Hand kennen. Wie tief ist die Humusschicht auf dem Heidesand? Das ist die Frage, die einmal über Leben und Hungertod entscheiden konnte, als nämlich der Flugsand mit einem Windstoß die Getreideernte zerstören konnte. Nach herzöglichem Plan wurden die schlimmsten Heidesand-Flächen mit Humus bedeckt und nach menschlichem Plan wenigstens mit Birken und Kiefern aufgeforstet.

Wer redet da von unvollendeter Schöpfung? Wer im Auto sitzen bleibt. Der kann das nicht wahrnehmen. Aus der Langsamkeit der Kutschfahrt durch die unendlich gleiche Landschaft wächst die Wahrnehmungsfähigkeit für dieses Stück Schöpfung. Armer Schopenhauer!

K.W.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen