: Theaterhäppchen vor der Bahnhofstür
■ Die KünstlerInnengruppe „Das letzte Kleinod“ inszeniert mit dem Stück „G56. Auf freiem Felde“ die Odyssee von Zwangsarbeitern aus Bremen und tourt damit in der nächsten Woche durch die ganze Elbe-Weser-Region
Es fahren noch Züge nach Geestenseth. Die privaten Eisenbahnen- und Verkehrsbetriebe Elbe Weser GmbH (EVB) steuern den Bahnhof, das Bahnhöfchen, des Dorfes, des Dörfchens, zwischen Bremerhaven und Bremervörde regelmäßig an. Doch der Güterwaggon da gleich links auf Gleis 1 ist ausrangiert. Und für Verniedlichungen ist ein Dorf auch nicht der richtige Ort: Ein Theaterabend draußen am Bahnhof Geestenseth, und ein Nachbar wummert mit voller Lautstärke Störkraft, Torfrock oder wer weiß was dagegen an.
Der Bahnhof Geestenseth ist die neue Heimat der Theatergruppe „Das letzte Kleinod“. Seit sieben Jahren beschert das wechselnde und internationale Sommerensemble vor allem Orten wie Wittstedt, Donnern oder jetzt Geestenseth, Worpswede und Brillit in der Elbe-Weser-Region Inszenierungen. Mal – für „Pflugland“ 1996 – ging's ins Haferfeld, mal – wie in der neuen Produktion „G56. Auf freiem Felde“ – geht's und zum Ärger des benachbarten Störers vor die eigene Bahnhofs-Haustür.
Möglicherweise ist ein älteres Modell dieses Güterwaggons da vorn tatsächlich durch Geestenseth gerollt. Und durch Worpswede. Und durch Vororte von Bremen und Hamburg. 75 Zwangsarbeiter von Nazi-Großbaustellen wie dem U-Boot-Bunker Bremen-Farge standen drin, als ein unbekannter Lokführer den Waggon und 24 weitere Waggons mit insgesamt rund 1.000 Häftlingen im April 1945 auf Nebengleisen durch Norddeutschland fuhr. Eine Woche lang dauerte die Irrfahrt des Zuges. Sein Ziel, das Konzentrationslager Bergen-Belsen, erreichte er nie. Die Briten haben die ausgermergelten, verhungernden und verdurstenden Überlebenden schließlich im Dorf Sandbostel befreit. Von den Befreiern sind Protokolle von Befragungen der Ex-Häftlinge überliefert. Darauf sowie auf Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen der Überlebenden stützt sich die „Kleinod“-Gruppe.
Der Güterwaggon rollt jetzt heran. Vor den Augen der UraufführungsbesucherInnen schieben die fünf Akteurinnen – drei Schauspielerinnen, eine Musikerin und eine tatkräftige Mithelferin – den Waggon an der ZuschauerInnentribüne vorbei. Langsam kommt er zum Stehen, und langsam, ganz langsam fängt das Quintett an, diesen rollenden Theaterraum zu bespielen.
Das Ensemble um den Regisseur Jens-Erwin Siemssen hat das Stück mit „Inszenierung eines Güterwaggons“ unterschrieben. Schon dieser Untertitel suggeriert eine höchstens vorsichtige Annäherung an die Geschichte aus dem April 1945. Und an die tasten sich die vier spielenden Akteurinnen Elze van den Akker, Judith Hoffmann, Mireille Vaessen und Sonja Griefahn (am Saxophon) tatsächlich sehr vorsichtig heran. Schon die Perspektive der Erzählerin ist eine Brechung. Mit der Milchkanne in der einen und einem Fahrrad in der anderen Hand (oder unterm Hintern) spielt sie keinen Häftling aus dem Zug, sondern eine junge deutsche Frau, die von der britischen Armee zur Krankenpflege der Überlebenden verpflichtet wurde.
Es geht in diesem Herantasten vor allem um Stimmungen, Momentaufnahmen, Projektionen. Bald spielen zwei Akteurinnen einen Blues als Dialog aus Stimm- und Saxophonimprovisation. Bald schieben zwei andere den Waggon und zitieren aus einem englischen Befragungsprotokoll. Und bald steht eine Akteurin in der geöffneten Schiebetür und singt das Chanson eines französischen Kriegsgefangenen, und zwei andere imitieren hinter Luken pantomisch die Gesten von zwei Mädchen dazu, an die er gedacht haben mag.
Impressionistisch häppchenhaft reiht Jens-Erwin Siemssen seine und die Einfälle der anderen aneinander. In einem Fingerfigurenspiel durch eine geöffnete Luke geht das daneben. Häufiger aber geht es auf. So ist es beklemmend, wenn sie gegen Ende Leichen aus dem Waggon ziehen und am Bahndamm verscharren. Es ist treffend und durch den Protest des Nachbarn noch treffender, wenn sie kurz davor Dias aus der Gegend anno 1998 in den Waggon projizieren. Und selbst die von Sonja Griefahn im Schlußbild gespielte 3.000ste Improvisation auf Lale Andersens „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“ wirkt hier – in dieser Inszenierung in dieser Kulisse – wie eine der ersten.
Siebzig Minuten dauert das Stück, das auch noch auf anderen Bahnhöfen der Elbe-Weser-Region gezeigt wird. Der Nachbar stellte pünktlich um zehn Uhr seine Stereoanlage ab und den Protest vorläufig ein. Trotzdem konnte die zweite Aufführung gestern abend nur unter Polizeischutz über die Open-air-Bühne gehen. Ein Dorf ist halt kein Ort für Verniedlichungen. Christoph Köster
Aufführugen: 8. und 9.8. um 21 Uhr sowie am 9.8. auch um 5 (!) Uhr am Hauptbahnhof Bremerhaven (Gleis 41, Bismarckstraße); 11.8. um 21 Uhr am Bahnhof Brillit bei Bremervörde; 12. und 13.8. um 21 Uhr sowie am 13.8. auch um 5 Uhr am Bahnhof Worpswede; 15. und 16.8. um 21 Uhr sowie am 16. 8. auch um 5 Uhr am Bahnhof Hamburg-Sternschanze (Gleis 19, Heinrich-Hertz-Turm)
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