piwik no script img

Neukölln ist nicht die wahre Bronx

Auf Einladung der „Stattreisen“ machte man sich gestern auf die „Suche nach dem anderen Neukölln“. Keine Schießereien, keine Banden: Vielleicht war es den Ferien geschuldet, Neukölln zeigte sich von seiner friedlichsten Seite  ■ Von Jeannette Goddar

Niemand schoß aus einem fahrenden Auto. Die Grünflächen waren nicht fest in schwarzafrikanischer Hand, die jungen Brandstifter, die einfach so mal einen Keller anzünden, gaben sich zumindest nicht zu erkennen. Auch die hungernden Kinder hatten offenbar keinen Ausgang. Statt dessen sah man einen freundlichen älteren Herrn mit einem kleinen Müllmobil über die Bürgersteige fahren und mit einer Art Industriestaubsauger die Erdflecken um die Straßenbäume von Hundekot und Coladosen befreien.

Braungebrannte Kinder, arabische wie deutsche, liefen durch die Straßen, manche mit Skateboard unter dem Arm, und blickten eigentlich ganz freundlich. Nur der junge Mann mit der unvollständigen Zahnreihe, der vor Rudis Reste-Rampe in der Karl-Marx- Straße auf der Straße hockte, erfüllte das Klischee: „Haste mal zehn Mark?“

Seit der Spiegel die „Endstation Neukölln“ entdeckte, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis nach Berlins alter und neuer Mitte und den Szenebezirken Prenzlauer Berg und Kreuzberg auch der nun vielzitierte Kiez südlich des Hermannplatzes in das Repertoire der Stadtführungen aufgenommen wurde.

Jetzt ist es soweit: Gestern brach die erste Gruppe in der Gegend zwischen Karl-Marx-Straße, Weichselplatz und Hermannplatz auf. Auf Einladung der „Stattreisen“ machte man sich auf die „Suche nach dem anderen Neukölln“. Vielleicht war es nur den Ferien geschuldet – aber „das andere Neukölln“ zeigte sich von seiner friedlichsten und sonnigsten Seite. Und so lernten die Zuhörenden all das, was der Spiegel in seiner dramatischen Geschichte über „blutige Auseinanderetzungen“ in der „Ära sozialen Niedergangs“ nicht geschrieben hat.

Vor allem ist das eine Geschichte anderer Ansätze und kleiner Schritte in einer Gegend, in der inzwischen jeder Dritte arbeitslos ist, das Pro-Kopf-Einkommen ständig sinkt: von dem Verein Neuköllner Arbeit, der in der Weichselstraße inzwischen in drei nebeneinanderliegenden Häusern mit 150 ABM-Stellen versucht, Langzeitarbeitslose zu reintegrieren, ein Obdachlosenprojekt unterhält, Altenhilfe organisiert und Grünflächen betreut.

Hier werden Möbel wieder zusammengeschustert, aus alter Kleidung neue genäht, Essen und Kaffee ausgegeben. Zwar sind 150 Stellen angesichts von knapp 32.000 Arbeitslosen im Bezirk ein Trostpflaster; die integrative Wirkung ist dennoch enorm.

Ähnliches gilt für die Rütli- Schule zwei Straßen weiter: Seit der Weimarer Republik gilt die Schule als Modellprojekt, als Qualifikationsstätte vor allem für Arbeiterkinder. An der Mauer hängt eine Gedenktafel für die im Widerstand gestorbenen Lehrer und Schüler. Auch heute beherbergt die Hauptschule Schüler aus über 20 Nationen: Neuköllner Modellprokekt in Sachen Deeskalation. In mühevoller Arbeit lernen die Kinder, über ihre Konflikte zu sprechen, anstatt sich vor dem Schulhof herumzuprügeln.

Vor allem aber ist die im Sommer fast ausgestorbene Gegend rund um die Weichselstraße voller Spuren des Bevölkerungsaustauschs der vergangenen Jahrzehnte. Anders als in Kreuzberg stammt hier nicht die überwiegende Mehrheit der Immigranten aus der Türkei. So finden sich kroatische Vereine neben griechischen Restaurants, Thai-Bars und arabischen Imbissen. Eins von zahlreichen Beispielen für eine erfolgreiche Existenzgründung in der Weichselstraße: Nachdem zwei Friseurläden binnen kürzester Zeit pleite gemacht hatten, wagte ein findiger Libanese den dritten Anlauf: er hängte ein arabisch-deutsches Schild ins Fenster – und frisiert nur Männer. Dazu gibt es Tee und einen Schwatz. Der Laden brummt.

Nur ein paar Meter weiter findet sich dann schon die nächste Goldgrube – allerdings eine, in der vermutlich auch der Spiegel-Reporter vorbeigeschaut hat: Der „Jee Bee Survival Store“. Adlermesser im Überfluß, dazu Pistolen Marke „Government“ und „Brigade“, 2 mal 8 Schuß.

Dabei hatte der Besitzer mal ganz harmlos angefangen: mit einem Geschäft für Aussteiger der anderen Art, für Krokodilfans und Trekkingfreaks.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen