■ Vorschlag: Die Überlistung der Schwerkraft: Dreimal Nederlands Dans Theater in der Komischen Oper
Für eine Kunst, die den Körper verbraucht und für die Probleme seines Alterns bisher keine Antwort wußte, mutet die Einrichtung einer Company für Künstler über 40 fast ein wenig zynisch an. Doch als 1991 die kleine Gruppe der „Top Performers“ von ehemaligen Tänzern des Nederlands Dans Theaters begründet wurde, war das eine Innovation in der Welt des Balletts: nicht nur, weil sie das professionelle Leben der Tänzer verlängerte, sondern mehr noch, weil der Tanz nach seinen ureigenen Bedingtheiten befragt wurde. Ihre Stücke ließen ein neues Bewußtsein von den Ressourcen der Kraft entstehen. Dieser künstlerische Aufbruch brachte die ehemaligen Ballerinen und Solisten in eine Gegend des Tanztheaters, das längst nicht mehr dem Ideal der perfekten Instrumentalisierung des Körpers anhängt. Persönliche Bindungen prägten ihre Beziehungen zu den vier Star-Choreographen Jiri Kylián, William Forsythe, Mats Ek und Hans van Manen, die das erste Programm von NDT III entwickelten: Sie schneiderten die Stücke Freunden, Ehefrauen, Brüdern und ehemaligen Musen auf den Leib.
Auch die drei Stücke von Kylián, die NDT III in der Komischen Oper aufführt, spielen mit dem Sichtbarwerden der Persönlichkeiten der Tänzer. Wenn Gérard Lemaitre seine Partnerin mitten im Pas de deux stehen läßt, weil sein Handy klingelt, wird aus der klassischen Form plötzlich ein offener Konkurrenzkampf: zwischen den Bedeutungen der Rolle und den Bedürfnissen des Lebens. Diesen Konflikt gehen die Tänzer mit Witz an. Manchmal schien es allerdings, als ob sie die Defizite der Elastizität durch schauspielerische Komik auszubügeln versuchten. Doch daß sie das nicht nötig haben, bewies der Abend zur Genüge. Denn oft bezogen sie ihre Stärke aus der Reduktion des Energieaufwands. In „Compass“ transformieren sie einmal auf Stühlen sitzend das erschöpfende Auszählen der Schritte in ein Spiel von Hand- und Armgesten, die dem ruhigen Torso einen Rahmen bauen.
Für einen bedeutete das Berliner Gastspiel dennoch den Abschied von der Bühne: Gary Christ, ehemals Solist des New Yorker Joffrey Ballets. In dem schönen Trio „A Way A Lone / to somebody no longer here“ fiel er durch eine kontrollierte Präzision auf, die kleinste Bewegungen weit ausstrahlen läßt. Die Choreographie arbeitet mit einem Trick: Bilder einer Kamera, die die über den Boden rollenden und rutschenden Tänzer von oben aufnimmt, erscheinen auf einer Leinwand, so daß die Tänzer plötzlich die Wände hochgehen. Schatten und reale Körper mischen sich unter diese der Schwerkraft Entkommenen. Das ist ein Bekenntnis zur Lust an Bewegung und der Überlistung körperlicher Grenzen. Katrin Bettina Müller
NDT III, heute, 20 Uhr in der Komischen Oper, Behrenstraße 55 - 57, Mitte
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