Unromantische Segelflieger

Einmal Bergedorf – Afrika und zurück: Seit 21 Jahren bereitet Storchenvater Jürgen Pelch Hamburgs Jungstörchen das Nest, bevor sie auf große Reise gehen  ■ Von Heike Haarhoff

Sie suchte kein Abenteuer. Es waren die für sie lebensnotwendige Wärme und der ihr angeborene Reisezwang, die die Nummer „222539“ aus Hamburg-Allermöhe Mitte August 1936 nach Afrika zogen. Ein Unfall in Süd-Rhodesien wurde ihr wenige Monate später zum Verhängnis. Schwer verletzt wurde die elegante Segelfliegerin, deren Fuß ein Ring mit der Kenn-Nummer „222539“ zierte, am 30. April 1937 in einem afrikanischen Dorf gefunden. Die Störchin starb.

Auch 61 Jahre danach bleibt die Todesursache rätselhaft. „Vielleicht hatte sie Heuschrecken gefressen, die bereits mit Insektiziden vergiftet waren. Oder sie hat sich beim Sturz die Flügel gebrochen.“ Jürgen Pelch steht am Kiebitzdeich in Hamburg-Bergedorf, wenige Kilometer vom Geburtshorst der „222539“ entfernt, und sucht nach Antworten in seinem vergilbten Notizbuch. Mit dem lassen sich Zugrouten, Beringungsdaten und Schicksale der Hamburger Störche über Jahrzehnte zurückverfolgen. Sicher, die Statistik ist lückenhaft. Längst nicht alle Unfälle aus dem Ausland werden „mir als Storchenbetreuer des Naturschutzbundes“, wie sich der 51jährige Pelch bezeichnet, gemeldet.

Aber das macht nichts. Schließlich war es Pelch – sein Beruf Blumenhändler, sein Hobby Störche – der vor 15 Jahren den schwarz-weiß gefiederten Prachtvögeln, die Kinder, Glück und Reichtum bringen sollen, nach Jahren der akribischen Datenerhebung wieder ein Leben in der Anonymität zugestand: „Damals habe ich aufgehört, die Störche, die wir beobachten, zu beringen. Die Zugwege sind erforscht.“

Trotzdem oder gerade deswegen macht er sich Gedanken. Darüber, ob auch alles gut gehen wird auf der 5000 bis 7000 Kilometer langen Reise von Bergedorf über Gibraltar und Angola nach Südafrika oder aber via den Bosporus und den Sudan. Gefahren durch Sturz, Nahrungsmangel, Abschuß oder Vergiftung lauern überall, insbesondere für Jungstörche wie die vier Geschwister vom Kiebitzdeich, die in diesem Jahr erstmals nach Afrika aufbrechen werden. Bis dahin sind es nur noch wenige Stunden. Denn an diesem Wochenende ist Stichtag: „Mitte August fliegen die Störche erfahrungsgemäß los.“

Jürgen Pelch klappt das Notizbuch zu. Sein Blick wandert auf die Brutstätte acht Meter über ihm. Dort endet der ausgediente Telegraphenmast, den vor Jahren eine Werft zu einem für Störche tauglichen Horst ausbaute. An sein Ende ist ein überdimensionales Wagenrad montiert, auf dem sich eines der elf Storchenpaare, die Pelch auf seinen Exkursionen durch Bergedorf und die Vier- und Marschlande in diesem Jahr gezählt hat, einnistete. Stroh, Viehmist und Zweige schaufelten Storch und Störchin im Frühjahr auf das Wagenrad, bis dieses dem Richtkranz auf einem Neubau in nichts mehr nachstand.

Wie erstarrt hockt die geschlüpfte Brut da, wartet auf Eltern und Frosch-Nahrung und ist beim besten Willen nicht auseinanderzuhalten. „Ob es Männchen oder Weibchen sind, erkennt man nur bei der Kopulation“, weiß Pelch, der die Störche seit 21 Jahren ehrenamtlich beobachtet: „Da ist das Männchen oben.“

Mit ihren zwei Metern Flügelspannweite sind die Vierlinge sieben Wochen nach dem Schlüpfen fast ausgewachsen. Nur die Schnäbel und die Beine, die noch unscheinbar grau-schwarz statt leuchtend rot sind, erinnern daran, daß die Jungen flügge, aber noch nicht erwachsen sind.

Störche sind Pragmatiker. Jedes Jahr ein neues Nest zu bauen, wäre viel zu lästig. Lieber werkelt das Paar an bestehenden Bauten herum. „Bis zu 30 Jahre hält so ein Nest.“ Und Jürgen Pelch? Der hat die oberste Bauaufsicht. Im Winter, wenn die Störche in Afrika weilen, repariert er Nester und Pfähle; im Frühjahr fährt er durch sein 200 Quadratkilometer großes Storchenreich und schaut nach dem rechten: Sehen die Jungen gesund aus? Brüten die Störche auch ordentlich? Wenn es irgend geht, mischt er sich nicht ein: „Das sollen ja Wildstörche bleiben.“ Dabei sind Störche keine scheuen Tiere: Die vier vom Kiebitzdeich watscheln auch schon mal durchs Gras und schnäbeln dann liebevoll den Schäferhund, der auf dem Hof nahe ihres Nistplatzes lebt.

Früher, sagt Jürgen Pelch, waren Menschen wie er nicht nötig: Es gab genug hohe Schornsteine zum Nisten, und vor allem gab es ausreichend saubere Gewässer und Deichvorland, um Frösche, Fische und Mäuse zu fangen.

Allmählich werden die Kleinen zappelig. „Die warten auf Abendbrot“, sagt Pelch. Doch die Eltern sind nirgendwo zu erspähen. Ein paarmal hüpfen die Jungtiere auf dem Nest auf und ab, um Schwung zu holen, dann heben sie ab: den Hals gerade nach vorn, die Beine lang nach hinten gestreckt. Das sachte Flügelschlagen wirkt majestätisch: Eine perfekte Körperhaltung, die jeden Krankengymnasten vor Glück erschauern ließe.

Die Geschwister segeln auf das Hausdach gegenüber. „Störche fliegen kräftesparend. Sie nutzen die Thermik aus und lassen sich wie Segelflieger gleiten.“ Bis zu 200 Kilometer am Tag legen sie so zurück. Wird es doch einmal zu heiß oder zu anstrengend, „benutzen sie ihre Beine als Klimaanlage“: In der afrikanischen Wüste wurde beobachtet, wie sich Störche die Beine bekoteten, um das Blut zu kühlen.

Die Eltern lassen auf sich warten. Storchenpaare gehen grundsätzlich gemeinsam auf Nahrungssuche, und auch beim Brüten herrscht strikte Arbeitsteilung. Doch ansonsten gestaltet sich ihr Zusammenleben eher unromantisch. Anders als Adler halten Störche sich niemals lebenslang die Treue. Lieber suchen sie nach getaner Aufzucht neue Partner.

Die Störche ziehen dazu die Luft ein, legen den Kopf in den Nacken und los geht das Klappern, ihr Lockruf, um einander zu begrüßen oder Wohlgefallen auszudrücken. „Die kleinen Störche werden gleich auch klappern, wenn die Eltern mit der Nahrung kommen“, weiß Storchenvater Pelch. Demnächst allerdings werden sie sich allein versorgen müssen. Störche und ihre Jungen fliegen, ganz wie Königsfamilien, immer getrennt nach Afrika. „Drei Jahre werden sie dort herumvagabundieren, bevor sie zurück nach Bergedorf kommen.“ Falls sie zurückkommen.