: Kopftuch-Debatte
■ betr.: „Die Arroganz der Mächti gen“, Leserbrief von Michael Riese, taz vom 10. 8. 98
[...] Selbstverständlich wollen wir alle, daß alle DeutschländerInnen, ob sie ChristInnen, Juden/Jüdinnen, MuslimInnen oder BuddhistInnen sind, unter gleichen Bedingungen leben und die gleichen Rechte und Pflicht haben. Die Diskussion ist zudem nicht neu. Bereits 1985 kam es in Berlin durch einen SPD-Stadtrat zu einer Ablehnung einer muslimischen jungen Frau mit Kopftuch, die in einem städtischen Kindergarten ein Praktikum absolvieren wollte. Zwangsintegration, koloniale Besserwisserei und Berufsverbot von links wurden ihm vorgeworfen. Obwohl die junge Frau auch einschränkend erklärte, „einiges an der Arbeit in deutschen Kindergärten könnte sie jedoch nicht mit ihrem Glauben vereinbaren. Mit den Kindern schwimmen gehen zum Beispiel, das würde sie nicht, aber sie würde statt dessen etwas anderes mit ihnen unternehmen“. Bedeutet dies aber nicht auch, daß somit die ihr unter Umständen anvertrauten Kinder, unterschiedlichster nationaler und religiöser Herkunft, eingeschränkt würden durch ihre religiösen Regeln.
In hessischen Schulen besuchen kurdische Kinder nicht den türkischen Mutterspracheunterricht, weil der Lehrer eine „Atatürk-Anstecknadel“ trägt. Die alevitischen Eltern wollen nicht, daß ihre Kinder von sunnitischen Lehrern unterrichtet werden. Wie würden sie sich demnächst fühlen, wenn in den deutschen Schulen Lehrerinnen mit Kopftüchern, die angeblich keine Symbole sind, unterrichten. Viele Aleviten haben die Türkei wegen ihrer weltoffenen und laizistischen Haltung verlassen müssen.
Die Erzieherinnen in hessischen Kindergärten erleben alltäglich, wie islamische Mädchen unter elterlichem Zwang Kopftücher tragen müssen und dürfen dagegen nichts unternehmen. Die muslimischen Mädchen und Frauen aus Bosnien oder der Türkei, die in diesen Ländern nie ein Kopftuch getragen haben, tragen es in Deutschland. Wie kann diese Situation von Michael Riese mit seiner These „Erzwingung der Emanzipation und Gleichberechtigung nach europäischen Werten“ erklärt werden?
Die islamischen Schülerinnen und Studentinnen können mit ihren Kopftüchern selbstverständlich ihre Schulen besuchen. Die muslimischen Lehrerinnen mit Kopftuch können in privaten islamischen Schulen unterrichten. Ähnliches gibt es auch in evangelischen, katholischen oder orthodoxen Schulen. Es geht aber bei der Entscheidung, worüber wir diskutieren, um öffentliche Schulen. Nicht nur in Baden-Württemberg auch in Hessen obliegt es dem Landesgesetzgeber, den religiös-weltanschaulichen Charakter der öffentlichen Schulen unter Berücksichtigung des Grundrechts der Eltern und Kinder auf Glaubens- und Gewissensfreiheit zu bestimmen. Die Grund- und Hauptschulen sind Schulen, die weltanschaulich- religiöse Zwänge soweit wie möglich ausschalten und den interkulturellen Dialog fördern. In solchen öffentlichen Einrichtungen tragen die Lehrerinnen und Lehrer eine ganz besondere Verantwortung. Aus diesem Grund ist es nicht akzeptabel, Lehrerinnen oder Lehrer in einer Kleidung, deren religionsbezogener Bedeutungsgehalt offenkundig ist, in öffentlichen Schulen zu haben. Auch die Diskussion, ob das Kopftuch ein Symbol sei oder nicht, ist eine Scheindiskussion. Das Kopftuch ist zu einem politischen Symbol für den islamischen Fundamentalismus geworden. Wer gleiche Rechte fordert, kann die gleichen Pflichten nicht ignorieren.
Der Staat darf von einer Lehrerin durchaus erwarten, daß sie das Rechtssystem und dessen normative Implikation billigt, wenn sie in einer öffentlichen Schule arbeiten will. In Hessen wurde das Tragen christlicher Ordenstrachten in der Schule bereits in den sechziger Jahre verboten. Gerade wir, die Grünen, waren und sind empört, daß das Land Bayern am Kruzifix in den bayrischen Schulen festhält. Ich oute mich ganz offen, ich hätte etwas dagegen, wenn meine Kinder von einer Lehrerin oder einem Lehrer mit Kopftuch, in christlicher Ordenstracht oder mit einer Kippa unterrichtet würden. Aus diesem Grund besuchen sie nur öffentliche Schulen.
Deshalb begrüße ich, daß die grüne Landtagsfraktion in Stuttgart und auch Alexander Müller in Wiesbaden deutlich Stellung genommen haben, ohne zu befürchten, von manchen als „Ausländerfeinde“ oder „ahnungslose Politiker“ beschimpft zu werden, wie es einige praxisferne Theoretiker schon in manchen Zeitungen formuliert haben. Es geht um uns alle. Wir brauchen keine „multi-kulti“ Demagogik, sondern eine sachliche Auseinandersetzung. Es darf auch nicht vergessen werden, daß sehr viele Frauen nur allein wegen des Nichttragens des Kopftuchs in islamischen Ländern sterben mußten. Özan Ceyhun, Bundesarbeitsge-
meinschaft ImmigrantInnen und
Flüchtlinge, Rüsselsheim
[...] Eine Lehrerin an einer Schule ist eben nicht nur Privatperson, sondern auch Erzieherin. Sie trägt Verantwortung für die Schülerinnen und Schüler i. b. auf eine Erziehung zur freien Selbstbestimmung, Gleichberechtigung(!) und Kritikfähigkeit. Frau Lubin vertritt und unterstützt, unabhängig von ihrer privaten Überzeugung, mit dem Tragen des Kopftuches eine Kultur, die Millionen von Frauen unterdrückt und zum Tragen dieses Tuches zwingt. [...]
Da Kinder aber auf ihre Bezugspersonen eben nicht „politisch kritisch“ reagieren (was sie auch nicht müssen), werden sie kaum zwischen dem Verhalten von Frau Lubin und anderen gezwungenen beziehungsweise so erzogenen Frauen unterscheiden können. [...] Gabriele Kraatz, Ettlingen
betr.: „Mit leeren Händen“ von Steven Uhly, taz vom 8./9. 8. 98
Steven Uhlys Plädoyer für das „Recht des Individuums auf eine freie Entfaltung als höchstes Gut“ ist zu unterstützen – das Kopftuch, auf das Fereshta Ludin meiner Ansicht nach zu Recht besteht, weist seine Trägerin jedoch nicht notwendig als Individualistin aus. Es zeigt im scheinbaren Gegenteil die Verwurzelung in einer religiösen Kultur. In einem Punkt stimme ich daher mit Uhlys Argumentation nicht überein: Eine öffentliche Kultur des Individualismus erscheint mir darin erst auf der Grundlage einer Dekonstruktion bestehender und heute relevanter Kulturen und Religionen möglich.
Sozialisations- und Ausgrenzungsstrategien, das ist einzuräumen, rerduzieren Vielfalt, ohne Sozialisationsprozesse können jedoch weder Kulturen oder Religionen noch Menschen individuell ihre jeweilige Konstruktion der Wirklichkeit beibehalten. Bereits die sprachliche Formulierung eines die Individualität schützenden säkularen Liberalismus, wie er sich seit Kant entwickelt hat, ist durch ihre Struktur mit den jüdischen, christlichen und griechisch-philosophischen Grunderzählungen und -texten westlich-demokratischer Staatstheorie verbunden. Individualismus ist daher selbst ein kulturelles Dogma, manche Kritik am Neoliberalismus empfindet ihn sogar als aufgezwungen.
Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, nach der unhintergehbaren Dekonstruktion kollektiver Werte einen Individualismus zu konzipieren und umzusetzen, der auf einer ethischen Verpflichtung zur Wahrnehmung der jeweils Anderen und zum Gespräch aufbaut (Lévinas). So ergibt sich ein Anknüpfungspunkt an die gesellschaftliche Wirklichkeit mit ihren vielfältigen religiösen und kulturellen Institutionen, die für einen Prozeß des Wandels gewonnen werden könnten, der das in diesen Gemeinschaften enthaltene Potential zur freien Entfaltung der Individuen begünstigt. J.-P. K., Name und Anschrift
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