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Cineasten in der Badehose

■ Die 51. Internationalen Filmfestspiele im sommerlichen Locarno und das Prinzip Wundertüte: Die sechste Fortsetzung zu "Halloween", Thomas-Bernhard-Video und viel Raum für Debütfilme

Es ist Sommer, junge Menschen haben Ferien und die zwei örtlichen Discos am frühen Morgen länger auf. Lago Maggiore, echte Wasserfälle, Naturschwimmbecken. Wer sich noch nie einen Cineasten in der Badehose vorstellen konnte (oder mochte), dem erschließen sich hier ganz neue Bilderwelten. Den schweren Festivalkatalog des 51. Internationalen Filmfestes in der einen und den Ratgeber „20 x 20 Top Tips Tessin“ in der anderen – Kunst und Erholung gehen in Locarno Hand in Hand. Ansonsten das Prinzip Wundertüte: die sechste Fortsetzung zu „Halloween“, das erste Video über Thomas Bernhard, die neueste Komödie mit Cameron Diaz und ein fünfstündiges Filmtagebuch zur Übergabe Hongkongs an die Chinesen. Locarno zeigt viele Erstlingsfilme und bietet mehr Raum für Produktionen aus Afrika und Asien als andere Festivals. Und überall schauen Leute zu. Selbst bei brütender August- hitze sitzen um vier Uhr nachmittags 3.000 Menschen in einer schlecht gelüfteten Turnhalle und lassen sich durch einen kirgisischen Film übers Erwachsenwerden verzaubern. Und auf der Piazza Grande läuft zur Prime time ein iranischer Film ohne Dialog. Am Ende haben beide wie selbstverständlich je einen silbernen Leoparden nach Hause getragen. Abolfazl Jalilis „Raghs-e-khak“ („Tanz des Staubs“) wie auch der kirgisische Beitrag „Beshkempir“ („Der Adoptivsohn“) von Aktan Abdikalikow beeindrucken gerade dort durch ihre visuelle Fülle, wo sie allereinfachste Verrichtun- gen und Handgriffe präzise beobachten: Fischen, Feldarbeit, Ziegelschleppen. Sie wissen in jedem Augenblick genau, was sie zeigen wollen. Ganz im Unterschied etwa zu Philippe Grandrieuxs „Sombre“, der bereits im Presseheft mit seiner Zerfahrenheit angibt: „Das Drehbuch nicht verfilmen, den Film nicht drehen, aber ihn auflösen, die Gegenwart der Dinge aufnehmen“. Ein Mann bringt regelmäßig Frauen um und schaut anschließend aufs Meer hinaus. Ziellos läuft er durch die Gegend; das Bild ist dunkel (Fassbinder), verwackelt (von Trier) und unscharf.

„Ich bekam Scheiße angeboten – ich habe Scheiße gespielt. Jetzt bin ich beschissen. Ist es das, was du hören willst?“ Michel Galabru, der als Polizeikommandant in Louis-de-Funès-Filmen einigen Ruhm erlangt hat, spielt sich selbst. In Karim Dridis „Hors Jeu“ gibt er den Mimen Galabru, der gemeinsam mit Miou-Miou und ein paar anderen Stars ein bourgeoises Dinner feiert. Prompt platzt ein beim Casting durchgefallener Schauspieler zur Tür herein, tut sich mit dem in ihn verknallten Hausmädchen (Schauspielerin auch sie) zusammen und kidnappt kurzerhand die feine Gesellschaft. Was er damit bezwecken will, weiß er nicht. Der Regisseur allerdings auch nicht. Selbst wenn „Hors Jeu“ ein ziemliches Drehbuch-Desaster ist: endlich ein Film, bei dem der Beginn einer Liebesgeschichte nicht automatisch dazu führt, daß die solchermaßen Affizierten vergessen, wie der Bundeskanzler heißt, oder daß noch für den Lebensunterhalt gesorgt sein will.

Anders als etwa in Carlo Mazzacuratis „L'Estate di Davide“, wo sehr landschaftsmalerisch eine bäuerlich-harmonische Welt behauptet wird, in der es nach Herabfahren der Himmelsmacht Liebe allenfalls noch ein paar private Probleme (erster Geschlechtsverkehr) zu bewältigen gibt. Von etwas feinerem Pinselstrich ist „L'Arbre de les Cireres“ des Katalanen Marc Recha, wo sich der Stillstand eines Tales im Dialog von Natur- und Menschenbildern widerspiegelt. Auch die Bäume stehen nur so da und greifen ins Leere.

Der japanische Beitrag „Ikinai“, Hiroshi Shimizus Regiedebüt, das „Hana-bi“-Regisseur Takeshi Kitano produzierte, ist da eine abgründige Allegorie auf den Stillstand einer ganzen Gesellschaft. „Ikinai“ („Kann nicht leben“) erzählt von einer seltsamen Reisegruppe, die zu ihrer ersten und letzten Fahrt aufbricht. Die durchweg männlichen Passagiere haben beschlossen, gemeinsam bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen, damit die Hinterbliebenen von ihren Lebensversicherungen profitieren können. Unvorhergesehenerweise wird aber einer aus dem Dutzend krank und schickt statt dessen seine lebenslustige junge Nichte auf die Reise. Deren Unbekümmertheit bringt die Todessehnsucht der übrigen Mitreisenden – ein Querschnitt der modernen japanischen Gesellschaft, der nebenbei das europäische Ammenmärchen von deren Homogenität Lügen straft – ins Wanken. Und so pfeift man auf das bestellte Kulturprogramm und gestaltet lieber selbst einen bunten Abend, kauft sich Lotterielose und debattiert über Gesundheitsvorsorge. Kurz: Man ist Individuum und kann auf einmal doch wieder leben. So fährt das Kollektiv, untermalt von Fußgängerzonen-Andenmusik, über Land, einer schönen fiesen Pointe entgegen, die hier aber nicht verraten werden soll – für den Fall, daß der Film, wie zu hoffen ist, ins Kino kommt.

Neben der Frage, ob der allgegenwärtige Festivaldirektor Marco Müller – stets mit Arte-Leinentasche zur schwarzen T-Shirt-Sakko- Kombination unterwegs – wegen mangelnder finanzieller Unterstützung wie angedroht seinen Hut nimmt, beschäftigen einen am Ende vor allem solche Fragen: Hat Lü Yues „Herr Zhao“, der absolut verdiente Gewinner des Goldenen Leoparden, überhaupt eine Chance, den Weg von China bis ins Kino zu schaffen? Interessiert sich außerhalb der Schweiz jemand für Marcel Gislers schöne Verfilmung des schwulen Kultbuchs „Ter Fögi isch e Souhung“? Das Besondere an Locarno ist, daß einem geradezu schmerzhaft jene Diskrepanz bewußt wird zwischen Filmen, die es gibt, und Filmen, die auch tatsächlich bei uns zu sehen sind. So verläßt man das Festival hungrig und in kämpferischer Laune: Man ist gesättigt, hat aber beim letzten Gang erst so richtig Appetit bekommen. Wer weiß, wann's wieder was Gescheites gibt. Oliver Fuchs, Axel Henrici

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