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Tibet: Land der Phantasie und der Träume

■ Keine Region fasziniert den Westen so stark wie Tibet. Der Dalai Lama zieht parteiübergeifende Sympathien auf sich. Die Exilregierung bedient populäre Themen

Nach dem Tode Mutter Theresas dürfte der Dalai Lama der einzige weltweit als solcher anerkannte lebende „Heilige“ sein – ein Mensch mit unbezweifelbarem Charisma, der auf dem internationalen Parkett unermüdlich die Trommel für sein Volk rührt und dabei virtuos mit seiner Doppelrolle als politisches Oberhaupt der Tibeter und religiöser Führer der Buddhisten tibetischer Prägung umgeht. Sein unbedingtes Bestehen auf Gewaltlosigkeit, das unter Tibetern ganz und gar nicht unumstritten ist, selbst angesichts der existentiellen Bedrohung seines Landes durch das größte Volk der Erde sichert ihm weltweite Sympathie und stellt ihn in die Nachfolge Gandhis. Und wer ihn je persönlich erlebt hat, muß höchsten Respekt vor ihm entwickeln – zu beeindruckend ist die ungeteilte Aufmerksamkeit, mit der er jede noch so abwegige Frage beantwortet, zu bemerkenswert die tiefe Integrität dieses Menschen.

Seit seiner Flucht im Jahre 1959 vor der chinesischen Besatzungsmacht und dem darauf folgenden Exodus von etwa 120.000 Tibetern stehen Tibet und die „Tibet- Frage“ im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Inzwischen ist Tibet weitaus populärer als irgendeine in dieser Hinsicht vergleichbare Region – wie z.B. Ost-Timor oder das Amazonasbecken. Die politische Linke schloß sich lange Zeit der chinesischen Sicht der friedlichen Befreiung des tibetischen Volkes von den Zwängen einer Sklavenhaltergesellschaft an, während für die Rechte und die bürgerliche Mitte Tibet zum Symbol der Unterdrückung anderer Völker durch den Kommunismus wurde.

Besonders die FDP und vor allem Otto Graf Lambsdorff unterstützten die tibetische Exilgesellschaft; die FDP-nahe Friedrich- Naumann-Stiftung ist einer der Hauptsponsoren der Deutschlandreisen des Dalai Lama und baute in Neu-Delhi gar ein Zentrum zur Förderung der Demokratisierung der tibetischen Exilgesellschaft auf. Auch innerhalb der CDU gibt es – vom Kabinett abgesehen – wenig Berührungsängste: Heiner Geißler und Rita Süssmuth empfingen als erste deutschen Politiker den Dalai Lama.

Bei den Grünen hingegen änderte sich die Haltung erst mit den Aktivitäten Petra Kellys und Gert Bastians und der Aufmerksamkeit, die amnesty international und die Gesellschaft für bedrohte Völker Tibet widmeten: Wurde nicht tatsächlich eine Minderheit gewaltsam gleichgeschaltet, eine einzigartige Kultur unterdrückt und den Tibetern gleich eine Reihe von Menschenrechten vorenthalten?

Hinzu kommt das wachsende Interesse am Buddhismus in unserer von den etablierten Kirchen wie auch vom Materialismus enttäuschten Gesellschaft. Auch hier ist der Dalai Lama das Symbol für eine spirituell orientierte, aber keineswegs abgehobene Geisteshaltung, ein Vorbild für eine alternative Lebensführung.

Darüber hinaus besetzt die exiltibetische Propaganda geschickt die im Westen populären Themen: Geschlechtergleichheit, Gewaltlosigkeit, Umweltbewußtsein, undogmatische Spiritualität werden als Eigenschaften der traditionellen tibetisch-buddhistischen Lebensweise reklamiert und als solche kritiklos von der wachsenden westlichen Fangemeinde anerkannt, die historisch belegbare Gegenbeweise als chinesische Propaganda abtut. Auch hier verhält sich der Dalai Lama wesentlich geschickter als seine Regierung und deren westliche Unterstützer: Er fordert diese Eigenschaften als Merkmale einer zukünftigen tibetischen Gesellschaft.

Da kann eigentlich nur noch eines einer vorbehaltlosen Unterstützung des Dalai Lama im Weg stehen: der Versuch, sich bei der Weltmacht China, dem milliardenstarken Markt der Zukunft, lieb Kind zu machen. Ein gewichtiges Argument für eine materialistische Gesellschaft, das wohl auch in Zukunft verhindern wird, daß – ungeachtet der weiten ideellen und finanziellen Hilfe für religiöse und soziale Projekte – die politische Unterstützung der Tibeter über inhaltslose Resolutionen und Lippenbekenntnisse hinausgehen wird. Tibet wird so weiterhin vor allem Gegenstand unserer Phantasie bleiben und sich endgültig als Shangri-La auf der Weltkarte der Utopien etablieren. Heinz Räther

Der Bonner Tibetologe ist Mitherausgeber des Sammelbandes „Mythos Tibet“ (DuMont, Köln 1997).

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