: Die Mission Schlingensief
Ob als Erweckungskünstler oder Scharlatan, Terrorist, Moralist, Sexsymbol oder Medienkuschel – mit seiner Parole Scheitern als Chance ist Christoph Schlingensief allen Situationen gewachsen. Der Rhetorik sei Dank kann dieser Mann einfach nicht verlieren. Folgerichtig ist er vor fünf Monaten in die Politik gegangen. Sprüche wie „Wähle dich selbst“, „Jeder hat Recht“ und „Sei 1 Volk“ stehen wie Monolithen in der Brandung des postmodernen Nullbotschaftssprech und verankern die Kunstpartei Chance 2000 an einer Stelle, an der die Ironie so weit getrieben wird, daß der nackte Ernst ungläubig ins Tageslicht blinzelt.
Christoph Schlingensief ist 37 Jahre alt, katholisch – und ein Triebtäter. Verdrängtes heimzusuchen ist sein Auftrag, handle es sich um Faschismus, Vatersehnsucht oder Menschlichkeit. Der Sohn „kleinbürgerlicher“ (Chr.Sch.) Eltern aus Oberhausen macht seit Kindertagen Filme, ging vor fünf Jahren an die Volksbühne nach Berlin und gründete gemeinsam mit dem Soziologen Carl Hegemann und dem Oberstaatsanwalt a.D. Dietrich Kuhlbrodt im vorigen März die Partei der letzten Chance. Eine Partei für Nichtwähler, Behinderte, Arbeitslose und andere Minderheiten. Aus ihr erwuchs eine Performance, die wegen der großen Anteilnahme der Medien für die Beteiligten schnell zur Dauerbeschäftigung wurde. Jetzt ist die Spaßguerilla auf dem Weg in den Bundestag und Christoph Schlingensief Direktkandidat in Berlin-Prenzlauer Berg.
Der Übergang vom Theater zur Politik war fließend. Vor zwei Jahren führte Schlingensief in der Volksbühne einen rituellen Mord an einer Kanzlerpuppe durch, forderte auf der documenta X: „Tötet Helmut Kohl“. Dem Beuys in sich immer mehr vertrauend, gab er auch der Florence Nightingale eine Chance und stieß letzten Herbst im Hamburger Schauspielhaus die Bahnhofsmission an.
Den Vorwurf, daß von seinen sozialen Plastiken nicht mehr bleibe als der Name des Künstlers, kann man dem „begnadeten Entertainer“ (Frank Castorf) nicht machen. Zwar gehören ihm die Herzen vieler Kunstfreunde und Unterstützer ganz persönlich, aber längst nicht alle, die von Schlingensiefaktionen profitieren, wissen, wer er ist. Auch die Arbeitsloseninitiative Traunstein kam zum Konzeptbaden am Kanzlerurlaubsort in Österreich Anfang August. Die haben die Botschaft intuitiv erfaßt: Zeige, daß du existierst.
Die gewünschte Erhebung der Massen ist naturgemäß auch ein Selbstmordkommando. Erwecktes Volk ist sich selbst genug – und prompt wird aus dem Missionar ein Märtyrer. Schon liefert die umfangreiche Homepage der Chance 2000 (chance2000.com) nur noch Zeitungsartikel. Das eigene Programm mit etlichen Fotos des lächelnden Frontmannes Schlingensief wurde zeitweise eingestellt – wegen Differenzen mit dem Initiator selbst. Petra Kohse
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