: Events verschwanden in der Masse
■ Rekord bei der „Langen Nacht der Museen“: 160.000 Besucher drängelten sich in Warteschlangen und überfüllten Shuttle-Bussen
Der Pförtner hat kein Erbarmen. Auch Medizinstudenten müssen sich an der Schlange vor dem Medizinhistorischen Museum anstellen. Der heimliche Einlaß durch die Ausgangstür bleibt versperrt. „Das haben schon mehrere versucht“, sagt der Pförtner schmunzelnd.
Eine dreiviertel Stunde wird der Student warten müssen, bis er die Vitrinen mit den schaurigen Präparaten aus der Sammlung von Rudolf Virchow sehen kann, dem berühmtesten Arzt der Charité. Ob die Schädel und mißgebildeten Skelette bei Nacht besonders schaurig sind? Wer mit dieser Hoffnung die „Lange Nacht der Museen“ für den Besuch in der anatomischen Sammlung nutzen wollte, wird enttäuscht gewesen sein. Das Museum ist so hell erleuchtet wie immer.
Eine Gruselatmosphäre verhindern auch die Besuchermassen. 160.000 Menschen – mehr als doppelt so viele wie beim vergangenen Mal im Februar – besichtigten in der Nacht zum Sonntag die Berliner Museen. 35 Häuser und 20 weitere Einrichtungen hatten bis 2 Uhr morgens geöffnet.
Es braucht schon Ausdauer und gute Ellenbogen, um in die Nähe der Vitrinen der pathologisch-anatomischen Sammlung zu gelangen. „Ich hole mir heute nur einen Überblick“, erzählt eine Hebamme aus Lichterfelde gelassen. Sie habe besonderes Interesse an den gynäkologischen Präparaten. Da die mißgebildeten Embryonen aber der größte Anziehungspunkt sind, hat sie es schon aufgegeben. Die Museumsnacht versteht die Frau als Anregung für weitere Museumsbesuche.
„Eine Hutmodenschau“, murmelt ein Mann und reckt den Kopf noch etwas höher. Auf dem Laufsteg im Deutschen Historischen Museum (DHM) schwingen Models Petticoats und kleine runde Handtaschen. Die spitzen Pumps mit den Pfennigabsätzen können die Besucher in den hinteren Reihen ohnehin nicht sehen. Ihr Blick reicht gerade bis zur Taille. Die Modedesignerin und -sammlerin Josefine von Krepl präsentiert Kleidung und Accessoires aus den fünfziger und sechziger Jahren. Rund 2.000 Neugierige hat das Spektakel angelockt. Eingepfercht und schwitzend versuchen sie, einen Blick auf den Laufsteg zu erheischen.
Etwas besser wird es bei der anschließenden Versteigerung von DDR-Plakaten aus der gleichen Zeit. Der Kontrast könnte größer nicht sein. Erst das Wirtschaftswunder in Form von Nylonstrümpfen und Perlonröcken, dann Arbeitersolidarität und das Vorbild Sowjetunion. An die 50 Originalplakate aus den Beständen des Museums gingen für Preise von 120 bis 500 Mark über den Tisch.
Viele Teilnehmer der Museumsnacht geben zu, sonst eher selten Ausstellungen zu besuchen. Sie reizt das große Spektakel. Ihre Route haben sie nach den Highlights ausgesucht: Die Brasilianische Nacht im Haus der Kulturen der Welt mit Tanz und Buffet finden viele besonders attraktiv.
Im Hamburger Bahnhof geht dagegen alles etwas gedämpfter zu. Dank der großzügigen Hallen müssen sich die Menschen hier nicht durch die Gänge quetschen, obwohl um Mitternacht schon rund 6.000 Besucher gezählt wurden. Hier heißt es: Sehen und gesehen werden. Die besonders Coolen streifen weinschlürfend um die Installationen. Wer öfter ins Museum geht, dem ist es allerdings im Hamburger Bahnhof viel zu voll. Man habe zu wenig Zeit für die Betrachtung, beschwert sich ein Mann. Die Konzentration gehe so schnell verloren wie bei einer Ausstellung, in der zu viele Bilder hingen.
Drei Museen ist das Quantum, was die meisten in dieser Nacht schaffen. Die überfüllten Shuttle- Busse der BVG und lange Warteschlangen verkürzen unfreiwillig die Nacht. Die Fülle wundert eine Frau gar nicht: Regenwetter und ein schlechtes Fernsehprogramm. „Letztes Jahr war an dem Abend der Boxkampf mit Henry Maske und ,Wetten, daß ...‘.“ Jutta Wagemann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen